Neue Seidenstraße : „Sprung nach Außen“

Container Seefracht Schiffstransport
© Fotolia

INDUSTRIEMAGAZIN: Das Projekt „Neue Seidenstraße“ wird in Europa sehr genau beobachtet und als Beginn einer Entwicklung empfunden, die zumindest wirtschaftlich weitreichende Folgen haben kann. Findet das Projekt in China auch derartigen Widerhall?

Veronika Ettinger: Ja, das Projekt wird sowohl in den Staatsmedien als auch in den sozialen Medien aktiv kommentiert. In den offiziellen Medien wird die Bedeutung der Seidenstraße als eine der wichtigsten außenpolitischen Initiativen des 21. Jahrhunderts unterstrichen. Gleichzeitig ist man aber auch darauf bedacht, ein vorsichtiges und maßvolles Sprachregime zu finden, um zum einen chinesischen Populismus daheim zu unterbinden und zum anderen das Entstehen von unnötigen Missverständnissen und das Aufkeimen von Widerstand aufseiten potenzieller Partnerländer im Ausland zu vermeiden.

Bedenken gibt es hinsichtlich einer potenziellen Überdehnung ökonomischer und finanzieller Möglichkeiten, Unklarheiten im Implementierungsprozess und der Gefahr von großen finanziellen Verlusten. Es wird debattiert, wie vernünftig es denn sei, derartig enorme Geldsummen in Infrastrukturprojekte mit geringer Rentabilität und in Länder mit hohem Risikofaktor zu stecken, während in China selbst auch noch ein hoher Bedarf an wirtschaftlichen Verbesserungen und Investitionen besteht – vor allem, wo die Lebenswirklichkeit im „New Normal“ mit geringerem Wirtschaftswachstum eine Reihe neuer Herausforderungen bringt.

Was meinen die Chinesen mit „New Normal?“

Ettinger: Die chinesische Regierung prägte diesen Begriff Anfang 2015. „New Normal“ bezeichnet das um rund sieben Prozent abgeschwächte Wachstum und die damit verbundenen Maßnahmen. Es steht für eine umfassende Neuausrichtung des Landes mit einer größeren Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur – weg vom starken Fokus auf Investitionen in die Schwerindustrie hin zu mehr Binnenkonsum, Dienstleistung und Innovation. Es steht außerdem für eine Reduktion der Luftverschmutzung und anderer Umweltsünden. Und es steht für eine gleichmäßigere Verteilung der Wirtschaftsleistung: also Reduktion der Ungleichheiten vor allem zwischen Stadt und Land sowie Küsten- und Inlandsregionen.

In Europa hat man den Eindruck: Wenn die Chinesen sich etwas wie die Neue Seidenstraße vornehmen, dann ist es perfekt geplant, und sie ziehen es auch durch. Stimmt diese Einschätzung in Ihren Augen?

Ettinger: Die Kapazität zur Bildung und Umsetzung großer Visionen ist in China stark ausgeprägt – die beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Landes seit Deng Xiaoping beweist dies hinlänglich. Bei der Seidenstraßen-Strategie handelt es sich aber um eine Initiative, die nicht von China alleine bestimmt werden kann. Hier bedarf es der Kooperation mit vielen Ländern auf sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveaus mit sehr divergierenden Wirtschaftsaussichten und zum Teil auch nicht zu unterschätzenden politischen Risiken. Viele dieser Länder, vor allem im Bereich des Seegürtels, konkurrieren entweder direkt mit China im Hinblick auf Produktion und Export oder haben massive Bedenken hinsichtlich der Hoheitsstreitigkeiten. China wird zur Umsetzung dieser Vision sehr viel diplomatisches Geschick brauchen und auch einen sehr langen Atem bei der konsequenten Verfolgung seiner Ziele.

Die Europäer sehen die Neue Seidenstraße meist vor dem Hintergrund neuer Exportchancen nach China. Man kann vermuten, dass China eher an die Gegenrichtung denkt. Können sie die diesbezüglichen Erwartungen der Chinesen beurteilen und quantifizieren?

Ettinger: Bei der „One Belt, One Road“-Initiative nur an Exportmöglichkeiten zu denken, wäre gewiss zu kurz gedacht. Ich glaube, es geht hier um die Konzertierung vieler Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, eine Großregion auf ein höheres wirtschaftliches Entwicklungsniveau und zu besserer und lückenloserer Kooperation und Abwicklung der Handelsströme zu bringen: Asien, Europa und Afrika repräsentieren immerhin rund 55 Prozent des globalen BNP, 70 Prozent der Weltbevölkerung und 75 Prozent der bekannten Energievorräte.

Die Seidenstraßen-Initiative wird als eine „neue Welle der Öffnung“ bezeichnet. Allerdings geht es diesmal, anders als in der Vergangenheit – als China sich im Inland für Investitionen, Technologie und Humankapital aus dem Ausland zu öffnen begann – darum, selbst den Sprung nach Außen zu wagen. Die Seidenstraßen-Initiative soll chinesischen Firmen helfen, ihre Kapazität im internationalen Management zu verbessern und ausländische Handelszentren und Produktionsbasen zu schaffen. Das soll auch helfen, Überkapazitäten zu beseitigen und Industrien wiederzubeleben, die im Heimmarkt nicht mehr ausreichend effizient arbeiten können.

Die Europäer sollten das Projekt also gemeinsame Initiative begreifen?

Ettinger: Präsident Xi Jinping hat bei seiner Europareise 2014 bekundet, dass China mit Europa hinsichtlich der Integration von europäischen und asiatischen Märkten kooperieren will. China und Europa sollen zu den Doppelmotoren für globales Wirtschaftswachstum werden. Ich denke, wir in Europa wären gut beraten, einen gemeinsamen Ansatz hinsichtlich der Seidenstraße zu finden, um unsere Möglichkeiten innerhalb dieses Rahmenplans wahrzunehmen und unseren Teil zu einer größeren regionalen Stabilität in unserer Nachbarschaft beizutragen.

In Europa scheint aber eine gewisse Unsicherheit zu herrschen, ob die Neue Seidenstraße seitens China eher als volkswirtschaftliches oder als geostrategisches Projekt angelegt ist. Was ist denn Ihrer Meinung nach der Schwerpunkt?

Ettinger: Ursprünglich wurde das Seidenstraßen-Konzept als eine umfassende Wirtschaftsstrategie erdacht: mit den Zielen der Wachstumssteigerung, Handelserleichterung und ökonomischen Neuausrichtung. Eine Hauptmotivation bildete dabei die Entwicklung der wirtschaftlichen Kennzahlen in den letzten Jahren, die die Notwendigkeit einer Neuausrichtung des Handels im „New Normal“ nahelegten. Alle Länder in Asien haben sich weiterentwickelt, und viele der Süd- und Südostasiatischen Nachbarn zeigen eine stark verbesserte arbeitskostenseitige Wettbewerbsfähigkeit. Die Reorganisation des binnenasiatischen Handels aufgrund neuer Handelsverträge verändert Wertschöpfungs- und Handelsketten, was auch zu starken Veränderungen im Warenfluss geführt hat. China muss also seinen bisherigen Modus Operandi in mehrerlei Hinsicht ändern und Möglichkeiten außerhalb seiner eigenen Grenzen schaffen. Die Seidenstraße soll dabei behilflich sein.

Aber?

Ettinger: Natürlich ist und bleibt es auch eine geopolitische und diplomatische Offensive. Im offiziellen Jargon bemüht sich China dabei klarzustellen, dass die Ambition im „Ergänzen“ der existierenden internationalen Ordnung liegt und nicht in ihrer Revidierung. China will im Kontext der Seidenstraße als „nicht bedrohliche“ und „nicht-revisionistische“ aufstrebende Macht verstanden werden, ganz im Sinne des „friedvollen Aufstiegs“, den China auch im Land selbst stark propagiert. Aber – Money Talks: Eine Strategie, die zu einem großen Teil auf Darlehen und Förderungen beruht, stärkt auch Chinas finanzielle Macht zusätzlich zu der ohnedies demonstrierten enormen Handelsmacht.

Inwieweit ist die historische Seidenstraße für das Projekt von Bedeutung? Ist der Name nur ein Branding, oder muss man die Historie kennen, um auch die Intentionen des heutigen Chinas zu verstehen?

Ettinger: Ein gewisser Einblick in die Historie ist im Verständnis Chinas immer sehr hilfreich. Zwischen der alten und der nunmehr propagierten Neuen Seidenstraße besteht aber ein wesentlicher Unterschied: Die historische Seidenstraße geht auf eine organische Entwicklung zurück. Sie entstand aufgrund der damaligen großen Nachfrage nach der begehrten chinesischen Seide. Heute ist die Situation anders, und die Motivation kommt aktiv vonseiten Chinas. Weder die Kooperation noch die Nachfrage in der Region sind heute in gleichem Ausmaß gegeben wie damals. Kommentatoren innerhalb Chinas warnen davor, ein so großes Projekt allein mit einem angebotsbasierten Ansatz ohne klareres Verständnis für die Nachfrage vonseiten der Partnerländer durchziehen zu wollen.

Interview: Bernhard Fragner