Spezial Tirol : So stemmt sich Tirol gegen den Fachkräftemangel

An Fachpersonal fehlt es in Österreich, glaubt man Studien von Personaldienstleistern, an allen Ecken und Enden. Beinah jeder zweite österreichische Betrieb habe, so geht aus einer Studie vom Sommer hervor, Schwierigkeiten bei Stellenbesetzungen aufgrund von Fachkräftemangel. Facharbeiter, Handwerker, Techniker führen das Negativranking an. Als Gründe für die Misere genannt werden: Ein eklatanter Mangel an Hard Skills und, allgemeiner, das Fehlen passender Kandidaten. Ist Tirol die lobenswerte Ausnahme? Viele Produktionsbetriebe Tirols mühen sich bei der Persoanlsuche trotz günstiger Rahmenbedingungen ab - finden aber auch Antworten auf das Besetzungsproblem. Teil des Strategiekonzentrats: Eine Top-Lehrlingsausbildung.

Erfolg der Sozialpartner

Wobei: Man muss nicht immer alles an die große Glocke hängen. Die Lehrlingsreferenten der beiden Sozialpartner Wirtschafskammer und Arbeiterkammer haben zum Beispiel erreicht, dass kaufmännische Lehrlinge in einem Verbund mit den Handelsakademien in Buchhaltung unterrichtet werden. Das wissen nur wenige. Hintergrund der Initiative ist, dass Bürolehrlinge meist keine Ahnung – mehr – von Buchhaltung haben. Wie auch: Immer mehr Betriebe lagern sie zu ihrem Steuerberater oder eigenen Servicefirmen aus. Andere Firmen wären hingegen froh, bekäme der herausgezüchtete Nachwuchs irgendwo das theoretische Rüstzeug für den Umgang mit dem Zahlenwerk.

Für Peter Schumacher, Leiter der zuständigen AK-Jugendabteilung, ist der Verbund mit den HAKs einer von vielen Beweisen, "dass auf der Expertenebene in Tirol ein sehr gutes Verhältnis herrscht. Neue Ideen setzen wir immer gemeinsam um". So war es beim Lehrlingscoaching, beim Ausbilderforum, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen. Einmal kommt der Anstoß von Arbeitgeberseite, einmal von den Arbeitnehmervertretern. Gibt es Auffälligkeiten im System, wenn etwa in bestimmten Berufen die Lehrabbruch- oder bei Prüfungen die Versagerquote steigt, setzen sich die jeweiligen Kammerzuständigen zusammen, nehmen Beauftragte und Prüfungsvorsitzende ins Gebet, suchen nach Abhilfe. Die unaufgeregte Zusammenarbeit aller institutionellen Beteiligten, gekoppelt mit Vorzeige-Werkstätten der führenden Großunternehmen, hat Tirols Facharbeiterausbildung bisher vor dem Totalabsturz bewahrt. Gemeinsam wird in das schwierige Match gegen die Demografie und gegen den Trend zur Verschulung bis 18 ins Feld gezogen.

Angespannt bis prekär

Die Herausforderungen sind mächtig. Mittlerweile klagen selbst Top-Unternehmen mit höchsten Ausbildungsrenommee in guter Lage, nicht mehr ausreichend viele Bewerber auf eine Lehrstelle zu bekommen. Die Andrangsziffer 4 auf 1 Lehrstelle, wie sie noch vor wenigen Jahren üblich war, ist auf das Verhältnis 2:1 halbiert, beklagt Tirols Industriellenvereinigung. Noch prekärer ist die Situation in den Seitentälern. So nehmen denn auch überproportional viele Ausbildungsbetriebe aus den „Regionen“ das Gratis-Service der Wirtschaftskammer an, in der Kammerzeitung und auf einer Online-Plattform ihre noch unbesetzten Lehrstellen anzubieten. Diese Aktion läuft seit vier Jahren, erklärt Helmut Wittmer, Leiter des WK-Lehrvertragsservice. „Das kommt bei den Betrieben sehr gut an.“ Ein Indiz, dass der Tropfen auf den heißen Stein Wirkung zeigt, auch wenn konkrete Daten über den Erfolg nicht erhoben werden.

Der aussichtsreichste Hebel ist freilich viel früher anzusetzen. Vor allem die Industrie wird nicht müde, in wiederkehrenden Forderungskatalogen und mit verschiedenen Programmen darauf hinzuweisen, dass schon im Volksschulalter die Weichen Richtung Faszination technische Berufe gestellt werden müssten, respektive auch mehr Maßnahmen gesetzt werden, um die Lehre in den Köpfen der Menschen aufzuwerten. Und "wir brauchen eine Berufsorientierung, die diesen Namen auch verdient", ätzt IV-Geschäftsführer Josef Lettenbichler.

Talent-Card

Eine zentrale Rolle kommt den Eltern zu, welchen Weg ihre Kinder einschlagen. Auch hier sind beide Sozialpartner in Tirol initiativ, zum Teil wiederum gemeinsam. Die Arbeiterkammer veranstaltet beispielsweise jedes Mal zum Jahresbeginn einen Info-Abend. Um die 100 Eltern im Großraum Innsbruck nehmen dies durchschnittlich wahr, erfahren dabei unter anderem wie man überhaupt eine Lehrstelle sucht oder woran man einen „guten“ Ausbildungsbetrieb erkennt. In Workshops präsentieren Vertreter aus namhaften Betrieben verschiedene Berufsbilder und die Karrierechancen. Die Werbung in eigener Sache ist Schumacher bewusst, auch wenn die Vorgabe lautet, möglichst nicht firmen-, sondern branchenbezogen zu agieren. "Andererseits sind unsere Partner glaubwürdig, sie kommen aus direkt aus der Werkstatt, was sie sagen, hat also Hand und Fuß." Die Wirtschaftskammer wiederum organisiert über das Wifi den sogenannten Talente-Check. Dabei werden in einem vierstündigen Akt Begabungen, Interessen und Neigungen eines Sprösslings abgeklärt, berichtet Andreas Zelger, Wifi-Bereichsleiter Karriere und Unternehmen, und anschließend in einem einstündigen Gespräch mit den Eltern analysiert. Kostenlos ist das allerdings nicht, jedoch schießt die Wirtschaftskammer 50 Prozent der 196 Euro Beratungsgebühr den Eltern zu. "Jedes Jahr nehmen zwischen 700 und 900 Jugendliche mit ihren Eltern das Angebot wahr", sagt Zelger hörbar stolz. Eine "Talent-Card" dokumentiert die ermittelten Stärken des Jugendlichen. Ein nettes Gadget, zur Erinnerung im doppelten Wortsinn. Denn in der Praxis, zumindest von den Betrieben, wird so gut wie nie danach gefragt. Schon eher nehmen diese ein weiteres Service des Wifi in Anspruch, um eine offene Lehrstelle treffsicher zu besetzen. Es nennt sich Potenzialanalyse, wird inhouse durch Wifi-Experten durchgeführt und trennt bei mehreren Bewerbern die Spreu vom Weizen.

Kooperationen

Land, AK, ÖGB, BFI, WK und Wifi Tirol kooperieren mit dem gemeinsamen Ausbilderforum daran, die Qualität der Lehrlingsausbildung zu steigern bzw. hoch zu halten. Zu den Besonderheiten, die Tirol hier von anderen Bundesländern unterscheidet, zählen ein eigenes Weiterbildungsprogramm für Lehrlingsausbilder, ein jährlicher Kongress und regelmäßige, gut besuchte Stammtische in allen Bezirken. Dort sorgt für steigenden Gesprächsbedarf, dass sich Jugendliche immer häufiger aus der Schule mit akuten Lerndefiziten in den Disziplinen Deutsch und Mathematik auf ihrem Ausbildungsplatz einstellen. Ein Phänomen, das natürlich nicht Tirol-typisch ist, dem hier aber in einer neuen Initiative ab diesem Herbst gezielt gegengesteuert wird. Überraschenderweise ist es die Arbeiterkammer, die dazu kostenlose Nachhilfe in den Kernfächern offeriert. Flächendeckend mit Ausnahme des Außerferns, aber inklusive Osttirol. Die AK übernimmt für die Lehrlinge die Kosten für die ersten vier Lerneinheiten zu je 90 Minuten bei der Organisation "Schülerhilfe". Für Peter Schumacher eine nüchterne Überlegung: "Wir stehen hinter dem dualen System", es sei "gut für die Wirtschaft" und damit auch für seine Schäfchen.