Industrie 4.0 : Smarte Produktion an der FH Joanneum
Die drittgrößte Stadt der Steiermark hat eine industrielle Tradition zu verteidigen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte Kapfenberg zu einem der europäischen Zentren der Eisen- und Stahlverarbeitung. 150 Jahre später ist Kapfenberg als Sitz vieler Hightech-Unternehmen, davon 13 Weltmarktführer, im Zentrum einer der größten und erfolgreichsten Industrieregionen Österreichs. Gerade schlägt Voestalpine mit der Errichtung des „modernsten Edelstahlwerks der Welt“ ein neues Kapitel für den Standort auf. Und mittendrin, umgeben von einer global und regional pulsierenden Produktionswelt, befindet sich die 1995 gegründete FH Joanneum. Es war schwierig, als Hochschule in dieser industriell gebürsteten Umwelt Fuß zu fassen. Doch mittlerweile verteilen sich die über 2000 Absolventen nicht nur in der Steiermark, sondern in ganz Österreich und darüber hinaus – der Standort hat sich als Kaderschmiede etabliert.
Digitaler Mehrwert
Die vier Studienrichtungen – Energie-/Mobilitäts-/Umweltmanagement, Internet-Technologien und -Anwendungen, Electronic Engineering und Industrial Management – versorgen die Industrie nicht nur mit den Fachkräften, die sie benötigt. Hervorragend ausgerüstete Labors fungieren als Drehscheibe zwischen Wirtschaft und angewandter Wissenschaft.
Bereits seit über 20 Jahren betreibt das Wirtschaftsingenieur-Institut Industrial Management die Themen der horizontalen Integration der Wertschöpfungskette und der vertikalen Integration mit Enterprise-Resource-Planning (ERP/SAP). Zwei Forschungsgruppen haben dazu bis jetzt hunderte Projekte und Publikationen realisiert. Da war der Weg zu Industrie 4.0 nach Merkels Startschuss bei der Hannover Messe 2011 nicht weit: Mit Flex(tronics) wurde eine strategische Roadmap mit Reifegradchecks zur Digitalisierung entwickelt, vor fünf Jahren ein erstes kleines I4.0-Labor für 3D-Druck und digitale Mikrofabriken von FESTO gestartet, vor kurzem das IoT-Chapter der SAP für den DACH-Raum von ERP-Forschungsgruppenleiter Professor Bischof übernommen, um schließlich im vorigen Jahr eine der größten Lehr- und Forschungsfabriken für Industrie 4.0 in Mitteleuropa zu eröffnen: das Smart Production Lab.
Kompetenz-Plattform
Damit versteht sich das Institut Industrial Management als Kompetenz-Plattform zur Diskussion und Erprobung neuer Technologien und Standards. Martin Tschandl, Professor und Leiter des Instituts Industrial Management, verfolgt ambitionierte Ziele: „Langfristig wollen wir eine Human-Resource-Funktion erfüllen, indem unsere Wirtschaftsingenieur-Studierenden für zukünftige Anforderungen einer weltweit fortschreitenden industriellen Revolution qualifiziert sind und ihr Wissen in die Unternehmen einbringen.“ Ganz nach dem Nutzen-Credo von Industrie 4.0, kosten- günstiger und gleichzeitig kundenindividueller zu produzieren sowie neue, digitalisierte Geschäftsmodelle zu entwickeln, will Tschandl mit einer Projekt- und Transformationsfunktion speziell den Mittelstand unterstützen: „Kurzfristig soll durch den Aufbau von Digitalisierungskompetenzen bei den Betrieben, Stichwort Weiterbildung, und anwendungs- und umsetzungsorientierte Forschungsprozesse in Form von Use Cases die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Österreichs gestärkt werden.“
Eigenes Transferzentrum
Zur Abwicklung von Projekten zwischen Hochschule und Unternehmen betreibt das Institut ein eigenes Transferzentrum und ermöglicht so den Wissenstransfer zwischen Theorie und Praxis. Tschandl: „Bis heute konnten wir über 450 F&E- und Industrieprojekte mit Unternehmen unterschiedlichster Größe und Branche erfolgreich durchführen.“ Um digitale Transformationsprozesse in der Industrie zu beschleunigen, sind mit der Industrie 4.0-Strategie verstärkt Digitalisierungsthemen in den Projekt-Fokus gerückt.
„Es gibt schon einige Industrie 4.0-Labs in Österreich, und alle leisten einen spezifischen Beitrag zur Digitalisierung unserer Wirtschaft“, meint Barbara Mayer, Professorin und Leiterin des Smart Production Lab. „Unser Lab-Pro l weist vier Besonderheiten auf: Erstens ist es in einer wirklichen Produktionshalle, das gibt eine besondere Atmosphäre. Zweitens: Wir haben eine Lab-in-Lab-Lösung mit einem SAP Next-Gen Lab zur Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen und für Service Engineering, ein Security Lab von den Cybersecurity-Experten vom Internet-Institut und ein integriertes FabLab, damit Interessierte in die digitale Welt eintauchen können. Drittens zeigen wir unsere F&E-Ergebnisse anhand von über 20 Use Cases, von denen sich die Unternehmen die für sie interessanten aussuchen können. Schließlich haben wir, viertens, ein Harvard-ähnliches Auditorium für Lehre und Weiterbildung mitten im Lab.“
Maschinen digital vernetzt
Statt großer Maschinen fokussiert das Smart Production Lab die vertikale und horizontale IT-Integration zur digitalen Vernetzung von Maschinen, Systemen und Menschen – von der Lieferung über die Produktion bis zum Kunden oder vom Produktdesign über die Produktionsplanung und Logistik zum fertigen Produkt und Reporting. In angewandten Forschungsprojekten werden Schwerpunkte der digitalen Transformation anhand realer Unternehmensprozesse gemeinsam mit unterstützenden Industriepartnern realisiert. Dies umfasst Themenfelder wie das Internet der Dinge (IoT), Augmented Reality, Big Data, Additive Manufacturing oder IT-Security, die durch die Kompetenzen am Joanneum-Standort Kapfenberg vorangetrieben werden. Das soll die Absolventen auf die digitale Produktion der Zukunft besser vorbereiten und den Wirtschaftsstandort stärken.
Was zeichnet Ihr Institut aus?
Martin Tschandl Erstens ein seit 24 Jahren erprobtes Wirtschaftsingenieur-Studium mit den richtigen Inhalten zwischen internationalem Management, Technik und IT. Zweitens unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dafür brennen, die besten Wirtschaftsingenieurinnen und -ingenieure auszubilden. Und drittens unsere Studierenden, die uns immer wieder aufs Neue zeigen, was in ihnen steckt.
In der Praxis heißt das?
Tschandl Unternehmen können in der neuen Lehr- und Forschungsfabrik Smart Production Lab Use Cases, die unsere Forschungsgruppen ständig weiterentwickeln, als Teillösungen einer Digitalisierung erleben und „angreifen“. So erkennen sie kurzfristig, welche dieser Lösungen für ihr Unternehmen von – schnellem – Vorteil wäre. Das seit über 20 Jahre aufgebaute Know-how zur vertikalen und horizontalen Integration und die hunderten abgewickelten Projekte mit Unternehmen fördern eine akademisch fundierte, aber trotzdem sehr praxisorientierte Projektabwicklung. So können Unternehmen mittelfristig als wesentlich erkannte Digitalisierungsthemen in Zusammenarbeit mit einer spezialisierten Hochschule abwickeln. Die Unternehmen profitieren zusätzlich von den Diplomarbeiten der fast fertigen Diplomingenieure und vor allem von den fertigen Absolventinnen und Absolventen mit Spezialwissen in Industrie 4.0.
Was erwartet dabei die Studierenden?
Tschandl Nach dem Wirtschaftsingenieur-Bachelor oder einem anderen Technik-Studium haben Studierende sowohl des Vollzeit als auch berufsbegleitend geführten Masterstudiums International Industrial Management seit 2017 die Möglichkeit, ihre fachliche Expertise in zwei Vertiefungsrichtungen zu professionalisieren. Neben dem bisherigen Schwerpunkt „Supply Chain Engineering“ ist es nun auch möglich, sich in „Smart Production & Services“ mit der Digitalisierung in der Produktion, also mit Industrie 4.0, zu vertiefen. Themen wie Industrie der Zukunft, Smart Manufacturing, Big Data Analysis und Lean Production werden bei der digitalen Transformation der Unternehmen benötigt. Meist bekommen die Vollzeit-Studierenden bereits während des Industrieprojektes im 2. Semester oder während der Vertiefung im 3. Semester Jobangebote. Einige Studierende verstärken auch ihre internationalen Erfahrungen mit einem Auslandsstudium, beispielsweise in Südkorea, Mexiko oder Spanien bzw. bei unseren Double-Degree-Partneruniversitäten in Taiwan und Udine/Italien.
Studienrichtungen
2 Bachelor „Industriewirtschaft/Industrial Management“ (6 Semester, Vollzeit und berufsbegleitend), BSc in Engineering
2 Master „International Industrial Management“ (4 Semester, Vollzeit und berufsbegleitend), Diplomingenieur/in
1 Lehrgang „International Supply Management“ (4 Semester, berufsbegleitend), MSc
1 Lehrgang „General Management“ mit ERP-Fokus (4 Semester, berufsbegleitend), MBA
Mit diesen Kooperationen ist die langfristige und nachhaltige Entwicklung des Smart Production Lab gesichert, weil so die Infrastruktur am Stand der Technik bleibt. Als Plattform für einen kontinuierlichen Wissenstransfer zwischen den Beteiligten ist so auch die forschungsgeleitete Lehre sichergestellt.
HOERBIGER: Fokus auf „Produktion der Zukunft“
Eine Liste mit über 25 erfolgreich angewandten Forschungsprojekten, die bis in das Jahr 2008 zurückreicht, zeugt von der Kooperationsintensität zwischen Industrial Management und Hoerbiger. Diese transdisziplinären Projekte – mit Themen von Produktionsoptimierung über IT/ SAP-Themen bis hin zu Marketing und Sales – werden häufig unter Einbindung von Wirtschaftsingenieur-Studierenden durchgeführt. Weiter absolvieren jährlich zwei bis vier Studierende ihr Bachelor-Praxissemester an den Hoerbiger-Standorten in Florida, Ohio und Wien. Seit 2013 ist diese Projekt-Palette um eine Facette reicher: ein berufsbegleitendes Master-Traineeprogramm, in das jährlich ein Studierender aufgenommen wird. Im Traineeprogramm wird während des zweijährigen berufsbegleitenden Masters ein aktuelles Kernthema, das sowohl Hoerbiger als auch die Hochschule treibt (beispielsweise Additive Manufacturing oder MES) kontinuierlich und wissenschaftlich systematisiert aufbereitet.
Hoerbiger fokussiert in seiner Kooperation im Smart Production Lab auf das Thema „Produktion der Zukunft“. Dazu wurde einerseits ein Projekt zum Einsatz kollaborativer Robotik in der Assemblierung durchgeführt. Ziel war es, das Optimierungspotenzial durch kollaborative Roboter im Montageprozess anhand von Feld versuchen im Smart Production Lab und eines Hoerbiger Use-Cases zu identifizieren. Andererseits steht das Thema Big Data in der Produktion ganz oben auf der Agenda. Daher steuert Hoerbiger als Platin-Partner einen SAP HANA-Server zur Forschungsinfrastruktur im Smart Production Lab bei: So können produktionsbezogene Big-Data-Projekte, basierend auf S/4 on HANA, realitätsnah getestet und Pilotprojekte im Unternehmen angestoßen werden.
VOESTALPINE: Digitales Retrofitting
Nicht nur räumlich besteht seit 1995 eine enge Bindung zur Voestalpine, befindet sich die FH Joanneum am Campus Kapfenberg doch im ehemaligen F&E-Gebäude der Voestalpine Böhler Edelstahl. Auch inhaltlich arbeiten Voestalpine und Industrial Management intensiv zusammen – sowohl in angewandten F&E-Projekten als auch über Praxissemester und Diplomarbeiten.
Die Eröffnung des eigenen Kompetenzzentrums für Digitalisierung in Kapfenberg veranlasste die Voestalpine High Performance Metals Division im Zuge des Starts des Smart Production Lab als Platinpartner unter anderem eine Behringer-Bandsäge mit dem Ziel zur Verfügung zu stellen, angewandte Forschungsprojekte zum Thema „digitales Retrofiting“ durchzuführen. Unterschiedliche Sensoren werden so an der Säge installiert, damit Schwingungsdaten erhoben, aufbereitet, übermittelt und in Folge analysiert werden können, um Predictive Quality and Maintenance zu realisieren. Gemeinsam wurde ein „Digital Ambassador Qualification Program“ entwickelt: An fünf Ausbildungstagen bilden sich Führungskräfte der Division unter anderem im Smart Production Lab an der Hochschule in Digitalisierungsthemen weiter.
Überdies unterstützt Voestalpine als Teil des Fördervereins am Hochschulstandort Kapfenberg sozial schlechter gestellte Studierende mit Stipendien.
PANKL: Evaluierung von IoT-Plattformen
Beinahe zeitgleich zur Eröffnung des Smart Production Lab des Instituts Industrial Management im Frühjahr 2018 eröffnete Pankl nur drei Autominuten entfernt seine neue, hoch digitalisierte Getriebefertigung. Im Fahrtwind der damit einher gehenden Digitalisierungsbestrebungen und basierend auf vorherigen Kooperationen, Projekten und zahlreichen Absolventen, die heute bei Pankl tätig sind, unterstützt Pankl den Ausbau und die Aufrechterhaltung der Smart-Production-Lab-Forschungsinfrastruktur. Im Zuge der Kooperation wurden bereits erste angewandte Forschungsprojekte initiiert und durchgeführt. Erstes Kernthema ist die Evaluierung von IoT-Plattformen. Ziel ist es, ausgewählte IoT-Plattformen technisch zu evaluieren und auf ihre Eignung zur Implementierung spezifischer Use Cases bei Pankl zu beurteilen. Zu diesem Zweck wird ein Evaluierungsmodell inklusive Bewertungsmatrix entwickelt, das die wesentlichen funktionalen sowie nichtfunktionalen Anforderungen von Pankl berücksichtigt. Auf Basis dieses Modells werden relevante IoTPlattformen beginnend bei der Datenherkunft über die Datenverarbeitung bis hin zur Datenweitergabe an Drittsysteme analysiert und gemäß einem einheitlichen Schema bewertet.
Weiters wurden im Zuge einer Abschlussarbeit die Prozesse für die Planung und Abwicklung interner Werksverkehre in Hinblick auf die Zielsetzung, die Transportzeiten zu optimieren, erhoben, dokumentiert und analysiert. Primär galt es, die Planungs- und Dispositionsprozesse mithilfe moderner IT-Systeme zu digitalisieren und so zu optimieren. Schließlich entwickelt eine weitere Abschlussarbeit ein Konzept für die nachhaltige Integration einer Big-Data-Plattform, unter Berücksichtigung sowohl technologischer als auch organisatorischer Anforderungen.