Dossier : Sieben Jahre Finanzkrise: Nichts gelernt?

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Das Bekenntnis steht auf Seite 87 des Jahresberichts: Ein Mindestrentabilitätsziel von 11,5 Prozent für alle Unternehmensbereiche setzen sich da die Manager des Konzerns und erklären in der Folge, wie man „den Verzinsungsanspruch der Kapitalgeber“ erfüllen will. Fast ein wenig rastlos liest sich das nachfolgende Kapitel wie eine Kurzeinführung in die Denke der Finanzwirtschaft. Doch die Autoren sind die Vorstände der Wienerberger AG – einem traditionsreichen Unternehmen der Realwirtschaft.

Am Shareholder-Value und ambitionierten Margenerwartungen der Anleger orientieren sich die Führungskräfte dennoch bedingungslos. Heimo Losbichler, Leiter des Lehrgangs für Controlling, Rechnungswesen und Finanzmanagement an der FH Steyr und Lektor an renommierten US-Universitäten, könnte mehr dieser Beispiele beisteuern. An seinem Institut wurden unlängst Studien durchgeführt, die der Frage nachgehen, wie sich das Verhältnis heimischer Manager zum Kapitalmarkt seit Ausbruch der Finanzkrise verändert hat.

Renditedruck wächst

Die Datenbasis für die Auswertung war riesig: Neben den Geschäftsberichten der zwanzig ATX-Unternehmen haben sich die Studienautoren der FH Steyr die Bilanzen aller dreißig DAX-30- Unternehmen und mehr als zwanzig Dow-Jones-Unternehmen vorgenommen. Anhand eines Scoring-Modells wurden die qualitativen und quantitativen Bekenntnisse zum Shareholder-Value untersucht. Das Fazit ist eindeutig: Im Schnitt orientieren sich in Wien notierte Unternehmen bei der Steuerung ihres Geschäfts seit 2008 weitaus stärker am Aktionärswert als vor der Krise.

Bei den Dax-Unternehmen und den an der New Yorker Börse gelisteten Dow-Jones-Unternehmen fällt die Zunahme der Sharaholder-Value-Orientierung sogar noch stärker aus. Das überrascht. Denn wenige betriebswirtschaftliche Steuerungsinstrumente gerieten seit Beginn der Finanzkrise derart in die Kritik wie das Schlagwort vom „Shareholder-Value“. Für die Befürworter ist er unverrückbarer Maßstab erfolgreicher Unternehmensführung, für die Kritiker der Inbegriff kurzfristigen, kapitalistischen Managements.

Manager großer, börsennotierter Unternehmen, deren Reporting quartalsweise erfolgt, können sich diesem Druck fast nicht entziehen, wie etwa die langjährige Siemens-Österreich-Chefin Brigitte Ederer einräumt: „Quartalsweises Reporting führt fast automatisch dazu, dass sich die Unternehmensführung kurzfristig ausrichtet“, sagt Ederer.

„Ich muss zugeben, dass ich mir selbst damit immer wieder schwer getan habe“, so Ederer. Ähnlich sieht das auch Andreas Ludwig. Der heutige Chef des Familienkonzerns Umdasch kennt beide Seiten. Immerhin war er Vorstandschef des Vorarlberger Beleuchtungskonzerns Zumtobel, als dort der Private-Equity-Fonds KKR einstieg. „Ich sehe die reine Orientierung am Shareholder-Value als eine kurzfristige Strategie, die zu Belastungen führt“, sagt Ludwig.

Cashflow, Langfristigkeit und Risikoabschätzung

Das Schielen auf Quartalsberichte bei Managemententscheidungen sei eher ein Zeichen einer Fehlentwicklung denn eines Fehlers im Shareholder-Value-Ansatz, finden Verteidiger. Denn eigentlich sollte die Theorie vom Marktwert der Unternehmensanteile als langfristiges Steuerungskonzept die Kurzfristorientierung der bis in die 90er gültigen traditionellen Rechnungswesen-Kennzahlen beseitigen.

„Beim Shareholder-Value-Konzept geht es um steigenden Cashflow, aber es geht auch um Langfristigkeit und Risikoabschätzung“, sagt Alfred Rappaport, Erfinder des Aktionärswertansatzes. „Der ursprüngliche Begriff ist längst von jenen gekapert, die keinerlei Interesse an langfristiger Entwicklung haben“, so Rappaport.

Auf der einen Seite also das hehre Ideal des Shareholder-Value, das Unternehmen nachhaltig in die lichten Höhen von Wachstum und Erfolg führt, auf der anderen Seite die real existierende Shareholder-Value-Praxis, die dem Ideal leider, leider nicht gerecht wird, weil den agierenden Akteuren die Weitsicht oder auch die moralische Größe fehlt. Das erinnert Kritiker durchaus an Diskussionen, ob die Idee des Sozialismus schon an sich schlecht war oder eigentlich gut und bloß falsch ausgeführt wurde. Oder auch an Dispute, ob die weltliche Macht der Kirche ein Abweichen vom richtigen Weg ist oder ganz im Gegenteil Ausdruck eines grundlegend verlogenen Glaubensbekenntnisses sei.

Und so wie es sowohl beim Sozialismus als auch beim katholischen Glauben Stimmen gibt, die einst die reine Lehre predigten, nun aber zur Umkehr rufen, hat auch der der Shareholder-Value-Ansatz seine Abtrünnigen. „Shareholder-Value ist die blödeste Idee der Welt“, formulierte 2009 einer der wohl gewichtigsten Verbreiter des Konzepts, die US-Industrielegende und General-Electric-Chef Jack Welch. „Sie kann nur Resultat des Handelns sein – aber keineswegs die Strategie am Weg dahin“, so Welch. Mit etwas philosophischem Gespür hätte Welch daher gleich formulieren können: Die ganze Debatte um den Shareholder-Value ist eigentlich ein Kategorienfehler.

„Früher produzierten Unternehmen Waren, um Kundenbedürfnisse zu befriedigen“, sagt Reinhard Sprenger, Managementtrainer und Buchautor. „Heute ist das Unternehmen Selbstzweck geworden, das möglichst schnell Investitionsrendite abliefern soll – im Notfall auch mal ohne den Umweg über den Kunden“, so Sprenger. In dieser Schärfe wollen das heimische Führungskräfte nicht stehen lassen – auch wenn etwa die ehemalige Siemens-Chefin Ederer durchaus einräumt, dass die Fokussierung auf die Kapitalrendite einen Anreiz zu Management-Handeln schafft, das Anteilseigner zu Lasten anderer Anspruchsgruppen bevorzugt.

„Manager sind noch immer oft mit extrem hohen Margenerwartungen der Investoren konfrontiert“, sagt Ederer. „Es wird gefordert, dass die Rendite zwölf bis fünfzehn Prozent des Umsatzes sein sollte. Doch kein Kunde lässt zu, dass Sie auf Dauer so hohe Gewinne erwirtschaften.“ Ederer weiter: „Wenn Sie mitbekommen, dass Ihr Mechaniker jedes Jahr fünfzehn Prozent Gewinn erwirtschaftet, werden Sie irgendwann beginnen, mit ihm geringere Preise für seine Leistungen zu verhandeln.“

Schlechtes Management?

Sind also letztlich doch schwache Manager an den Fehlentwicklungen schuld? Ist es möglicherweise einfach schlechtes Management, was manche als Shareholder-Value-Exzess bezeichnen? „Ich kann als Manager innerhalb von Sekunden die Rendite eines börsennotierten Unternehmens steigern, indem ich Leute entlasse“, bekennt der Palfinger-CEO Herbert Ortner ungeschminkt. Dass er es nicht tut, versteht sich von selbst. Dass er es nicht müsste – ebenfalls. Als Topmanager eines Unternehmens mit strategischem (Familien-)Kernaktionär wird er aber auch nicht in die Verlegenheit kommen, es erwägen zu müssen.

„Unternehmen, die in Familienbesitz sind, agieren in der Regel anders als börsennotierte Unternehmen“, sagt Brigitte Ederer. Die ehemalige Vorstandsvorsitzende von Siemens Österreich ist heute Aufsichtsrätin – auch in familiengeführten Unternehmen, etwa bei Böhringer Ingelheim. „Da sind gewisse Überlegungen und Strategien langfristiger angedacht und damit nachhaltiger als anderswo“, so Ederer. Aber ist das nicht alleine schon ein Beweis dafür, dass die übermäßige Orientierung am Kapitalwert der Anteilseigner suboptimal ist?

Es ist einfacher, ein Unternehmen zu führen, auf dem es bei der Eigentümerseite einen klaren Ansprechpartner gibt, gesteht auch Umdasch-Manager Ludwig ein. Auch wenn er seinen ehemaligen Eigentümer, den durchaus andernorts in die Kritik geratenen Hedgefonds KKR, in Schutz nimmt: „Man tut Fonds Unrecht, wenn man Ihnen grundsätzlich unterstellt, Unternehmen des schnellen Gewinns wegen zu ruinieren. Bei Zumtobel hat die KKR ganz klar gesagt: Unsere bevorzugte Exitstrategie ist der Börsengang. Innerhalb dieses Zeitraums haben sie aber durchaus umsichtig agiert.“

Lehrgangsleiter und Studienbetreuer Losbichler sieht das nicht so: „Ehrlich gesagt, so unerwartet finde ich das Ergebnis auch nicht. Im Gegenteil: Alles andere würde ja die Abschaffung des Unternehmertums bedeuten. Möglicherweise wird Shareholder-Value für etwas verantwortlich gemacht, wofür es nur bedingt etwas kann: Schlechte Unternehmensführung. Das Konzept des Shareholder-Value sei, so Losbichler, richtig, aber zu einseitig und ganz sicher überwiegend falsch angewendet.

„Wir müssen es schaffen, das Shareholder-Value-Konzept von seiner Kurzfristigkeit zu lösen“, sagt Losbichler. Am Prinzip des Gewinnmachens kann jedoch grundsätzlich nichts falsch sein. „Ich zitiere Erich Gutenberg, den Nestor der deutschen Betriebswirtschaft: ‚Am Gewinnmachen ist noch keine Firma kaputt gegangen‘“, sagt Losbichler.

"Unternehmerisches Bauchgefühl lässt sich nicht in Zahlen darstellen"

Markus Huemer, Vice-CEO des börsennotierten, aber familiengeführten Automobilzulieferers Polytec, pflichtet dieser Wahrheit bei – und sieht das Problem doch noch ein wenig anders. „Der entscheidende Punkt ist, ob man glaubt, alles, insbesondere die mittelfristige Entwicklung, in Zahlen gießen zu können. Ich glaube, dass sich unternehmerisches Bauchgefühl nicht in Zahlen darstellen lässt.“

Kennzahlen zu optimieren sei eine einfache Übung. Im Automotiv-Bereich von Huemer etwa bei der Umsatzsteigerung: „Bei Vorlaufzeiten von zwei Jahren kann da schon jemand auf die Idee kommen, zu optimistischen Kalkulationsannahmen ganz viel zu akquirieren, damit unter der Annahme zukünftig steigenden Umsatzes die Kennzahl steigt.“

Ob die kalkulierten Kosten dann realistisch erzielbar sind, stelle sich erst Jahre später, womöglich bereits in der Verantwortung eines Nachfolgers, heraus. Ein noch plakativeres Beispiel seien aber Investitionen: „Werden Investitionen kurzfristig aufgeschoben, steigert das erst einmal den ROCE und damit den Shareholder-Value. Mittelfristig wird diese Strategie aber zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit gehen.“

Zu wenig Kontrolle?

Norbert Zimmermann, als Vertreter der Eigentümerfamilie übrigens selbst Aufsichtsratsvorsitzender bei der Berndorf AG, sieht das ähnlich – hält das Messwerkzeug seiner Finanzvorstände jedoch für alternativlos. „Gegen Zahlen zu wettern halte ich für unsinnig. Die können nichts dafür. Aber wie jedes Werkzeug können CEOs und auch Aufsichtsräte Zahlen bewusst falsch einsetzen und unbewusst falsch interpretieren.“

Braucht es am Ende also womöglich gerade wegen der Orientierung am Shareholder-Value externe Kontrollinstanzen, weil sonst der Turbokapitalismus, den eigentlich keiner will, sofort wieder bei der Hintertür zurück reinkommt? „Um Gottes Willen nein“, sagt Zimmermann. „Das wäre so, wie wenn Sie von heute auf morgen alle weißen Schafe orange anmalen, nur weil es hie und da auch ein paar schwarze gibt, die man dann aber nicht mehr unterscheiden kann.“