Lieferkette : Schubs ohne Wagnis

Hannes Hunschofsky Hoerbiger
© Helene Waldner

Lange Transportwege. Halbzeuglieferanten, die auf stattliche Vorlaufzeiten pochen. Dazu Controller, die bei Überbeständen sofort Gewehr bei Fuß stehen: Ein Horrorszenario. Für Peter Widany ist es der gelebte Alltag. Seit die Glühlampe einen wenig leisen Tod starb, hat sich für den Supply-Chain-Manager beim deutschen Leuchtmittelhersteller Osram vieles zum Extrem verändert. Das Marktumfeld im LED (lichtemittierende Diode)-Bereich ist fordernd wie sonst kaum eines. Im Bereich der Vorerzeugnisse – etwa Kondensatoren oder Widerstände – steht der Münchener Leuchtmittelhersteller im beinharten Wettbewerb mit Mobiltelefon- oder Computerherstellern. Zugleich drängen Lieferanten „auf Vorlaufzeiten von bis zu fünf Monaten und Abnahmeverpflichtungen“, so Widany. Was intern gleich das Thema Überbestände aufs Tapet bringt. Der lange Transportweg von Asien nach Europa ist da nur noch Draufgabe. „Er erschwert die Planung zusätzlich“, so Widany. Handlungsdruck wächst So viel ist sicher: Die europäische Reglementierung bei Leuchtmitteln verdrängt nicht nur die Glühbirne, sondern auch die frühere Ordnung auf den Absatzmärkten. „Wir mussten unsere Beschaffungs- und Planungsprozesse im Bereich der Allgemeinbeleuchtung komplett umkrempeln“, sagt Widany. Lesen Sie weiter: Wertschöpfungsketten ändern sich „gravierend und kurzfristig“

Mit einem neu aufgesetzten Verkaufs- und Planungsprozess (S&OP) reagierte der Betrieb. Er liefert nunmehr bessere Forecasts für (im ersten Schritt) „ausgewählte Kernprodukte“, so Widany. Auch andere Betriebe reagieren – denn der Handlungsdruck wächst, egal, in welche Branche man schaut: Die europäischen Chemieunternehmen treiben die anhaltenden Konjunkturschwankungen in die Panik. Nur rund die Hälfte der von A.T. Kearney befragten Chemieunternehmen erachten die Chancen und Risiken einer erhöhten Volatilität für ausgewogen. Für mehr als ein Drittel würden die Risiken überwiegen. Derselbe Befund in der Industrieautomation. Bosch-Rexroth-Vorstand Karl Tragl erwartet fürs zweite Halbjahr „eine weiterhin hohe Volatilität und Veränderungsgeschwindigkeit“. Spekulanten tragen ihr Übriges dazu bei: „Völlig von der Realwirtschaft entkoppelte Preisschwankungen“ beobachtet derzeit der Industrielle Veit Schmid-Schmidsfelden, Obmann der niederösterreichischen Fachgruppe der Maschinen- und Metallwarenindustrie. Die Wertschöpfungsketten ändern sich „gravierend und kurzfristig“, beobachtet auch Franz Staberhofer, Leiter Logistikum an der FH Steyr und Obmann des Vereins Netzwerk Logistik (VNL). Asien werde etwa immer mehr darauf bestehen, dass die dort gekauften Autos im eigenen Land produziert würden. „Damit verschieben sich ganze Produktionen und deren Liefernetzwerke“, so Staberhofer. Eine der Hauptanforderungen: „Die Supply Chain flexibel und anpassbar zu halten“, so Staberhofer. Lesen Sie weiter: Infineon: Werksbau auf Verdacht

Minimale Ausschläge im Bruttosozialprodukt reichen – und das Umsatzziel wackelt gehörig. In dieser Situation ist der Halbleiterhersteller Infineon. Die Münchener sind immer wieder damit konfrontiert, was in der Literatur als Bullwhip-Effekt bezeichnet wird: Rutschen die Bedarfszahlen allzu plötzlich ab, schaukeln sich die negativen Ausschläge durch den Abbau von Lagerbeständen bis hinunter zu den Vorlieferanten auf. Kein angenehmes Marktumfeld für die über 10.000 abrufbaren Produkte – aber der Halbleiterhersteller weiß mächtige Absicherungsinstrumente in seiner Hand: Neben der Kundensegmentierung, die eine (lieferkettenschonende) auftragsbezogene Fertigung möglich macht, holt sich der Betrieb auch hochqualitative Informationen aus den Kundenbetrieben.120 Customer Logistics Manager – über jeden Zweifel erhabene Lieferkettenprofis – kommunizieren mit dem Kunden in derselben Zeitzone und Sprache „unter anderem auch über Bedarfe,“ heißt es bei Infineon. Für VNL-Obmann Franz Staberhofer eine feine Sache. „Ohne ordentliche Daten als Basis – das klingt trivial und vielleicht furchtbar lästig – geht es nicht“, weiß er. Bei Infineon sind sie mehr als ordentlich. Für Tier-One-Kunden gebe es gar „einen zentralen Ansprechpartner“ für alle weltweiten Kundenwerke, so Kurt Gruber, Supply-Chain-Chef von Infineon. Das stopft die Löcher, die weniger aussagekräftige Kunden-Forecastings hinterlassen: „Die Konjunkturkrise hat bewiesen, dass der Kunde Abwärtstendenzen nicht immer erkennt“, so Gruber. Mentale Barrieren – „der unbedingte Glaube ans Umsatzziel“ – sei, mitausschlaggebend dafür, sich täuschen zu lassen. Stresstests Für den Kurzfristhorizont ist Infineon mit der gelebten Integration des Kunden gut gewappnet. Schwieriger fällt die Mittel- und Langfristplanung – hier gebe es „viele Unwägbarkeiten“, so Gruber. Der Konzern behilft sich deshalb mit Flexibilität. Die global aufgestellten Infineaner fahren etwa doppelgleisig. Sie statten unterschiedliche Werke mit denselben Produktionslinien aus, um Steigerungen von 30 bis 100 Prozent bei abgerufenen Mengen abzufangen. Die Fertigungsstrategie des Chipherstellers ist zudem weit in die Zukunft schauend ausgerichtet, um Ausschlägen wirkungsvoll entgegenzutreten. Das zeigt sich bei der Errichtung neuer Werke. Den Rohbau – die strategische Hülle, deren Bau zwei bis drei Jahre dauert – stellt der Betrieb quasi auf Verdacht auf die grüne Wiese. „Dann müssen wir nur noch das Equipment einbringen und die Produktion hochfahren, wenn die Zeit reif ist“, erzählt Infineon-Mann Kurt Gruber. Am Standort Kulim in Malaysia wartet aktuell genau so eine Hülle darauf, zum Leben erweckt zu werden.Zusätzlich sichert sich der Halbleiterhersteller mittels Szenarioplanung ab. Gegenüber konventionellen Forecasts – einer Nachfragelinie durch Summierung der Kundenbewertungen – greifen „Stresstests“ tiefer. Zur Vermeidung von Engpässen eingeführt, „stellen wir dabei mithilfe eines S&OP-Tools nach unten und oben Vergleichsrechnungen an“, sagt Gruber. Eine schulungsintensive Angelegenheit zwar. Aber der Konzern hob dafür eine elektronische Lernplattform aus der Taufe. Aktueller Stand: 60 Module – Tendenz steigend.Lesen Sie weiter: Hoerbiger: Makrodaten als Anti-Druckmittel

Wie aus dem Nichts kollabierende Märkte: Die Krise überraschte 2009 auch den auf Kompressortechnik spezialisierten Maschinenbauer Hoerbiger. Mit Umsatzeinbrüchen in der US-Gesellschaft von 40 Prozent lagen die Planungsdefizite der Vergangenheit plötzlich schonungslos offen: Mit einer Planung, bei der das Vorjahresergebnis – neben Kunden-Incentives – „wie selbstverständlich“ die Basis fürs laufende Jahr darstellte, „waren wir nicht sonderlich ehrlich zu uns“, sagt Hannes Hunschofsky, Chef der Globalen Produktionsdivision von Hoerbiger Kompressortechnik. Er leitet zugleich das Hoerbiger-Werk in Pompano Beach, Florida. Zwar fanden einige makroökonomische Daten und Wirtschaftsindikatoren bisher schon im Zuge der Budgetierung Beachtung – etwa die künftigen Erdgaspreise und die Anzahl aktiver Bohrtürme. Zumindest Ersterer aber stand – so stellte sich später heraus – „in keiner klaren Korrelation zum Umsatz“, so Hunschofsky. Externen Marktpotenzialen schenkte der Betrieb „zu wenig Aufmerksamkeit“. Deshalb krempelte der Betrieb vor drei Jahren seine Strategie um. Für eine höhere Planungsgenauigkeit entwickelte Hoerbiger ein streng auf basismakroökonomischen Daten basierendes, anpassungsfähiges Indikatorensystem. „Wir tauchten dazu tief in die (US-amerikanische) Literatur ein“, so Hunschofsky. Insgesamt identifizierte der Betrieb mehr als 20 Wirtschaftsindikatoren, die mit der Unternehmensentwicklung über zehn Jahre korrelieren und den Umsätzen „bis zu 15 Monate vorlaufen“.Von den fünf Kernindikatoren – wie dem Stand der US-Industrieproduktion oder dem Neuverkauf von Werkzeugmaschinen – blicken drei sogar bis zu 36 Monate in die Zukunft. Die halbjährliche Rollierung „erhöht die Prognosequalität zusätzlich“, so Hunschofsky. Die Indikatordaten werden zudem monatlich aktualisiert – oder aus den Top Ten geschmissen. „Wir prüfen ständig, welche Indikatoren an Bedeutung zulegen“, sagt Hunschofsky. Entspannung für die Lieferkette Die bessere Datenqualität bringt seither Entspannung in die Hoerbiger-Lieferkette. Die Abweichungen vom Umsatz-Plansoll liegen jedes Jahr im unteren einstelligen Prozentbereich. Durch die realitätsnähere Planung „fällt enormer Anpassungsdruck von der Organisation“, sagt Hunschofsky. Wohl auch, weil der Kompressortechnikspezialist nun sogar die Planungssicherheit seiner zwei größten Lieferanten – im Stahl- und Polymerbereich angesiedelt – per Zwölfmonatsvorschau steigern kann. Freilich: Dafür musste der Betrieb alte Denkschemata aufbrechen. „Das Verständnis dafür, den Kundenforecast einer Makroplanung unterzuordnen, musste sich erst durchsetzen“, sagt Hunschofsky. Das makroökonomische Forecasting klinge in vielen Ohren „nach Alchemie“.Im Werk in Florida setzten sich die Forecasts jedenfalls spektakulär durch. Werke mit weniger homogenen Produkt- und Kundensegmenten wie das Wiener Werk planen ebenso den Einsatz des Prognosetools. Mittlerweile ist sogar auf wissenschaftlicher Ebene das G ́riss um die Hoerbiger-Strategie groß. Hunschofsky: „Wirtschaftswissenschaftliche Lehrstühle haben Interesse angemeldet.“Lesen Sie weiter: Osram: Eine Zahl, zu der alle stehen

Die Planung erschweren Osram nicht nur Lieferanten. Auch von Händlerseite wirkt enorme Unsicherheit durch. Denn der Kunde ist derzeit unberechenbar. Die Frage, mit was die Glühlampe substituiert wird, beschäftigt die Planer der Osram-Lieferkette von LED-Retrofit-Lampen Tag und Nacht. Die Gefahr, das falsche Produkt am Lager liegen zu haben, minimiert nun etwas der (in München zentral gesteuerte) S&OP-Prozess. Von einem vormals groben Verkaufs-Forecast auf Jahresebene hat sich ein „monatlich rollierender Soll-Ist-Vergleich für die nächsten zwölf Monate durchgesetzt“, so Osram-Supply-Chain-Manager Peter Widany. Einmal im Monat einigen sich sämtliche Abteilungen – vom Einkauf übers Marketing bis hin zur Produktion und dem Vertrieb – „auf eine prognostizierte Umsatzzahl, hinter der jeder steht“, sagt Widany. Aus den Absatzmärkten der EU-Länder fließen die Prognosen für die Planung ein. Mit Erfolg. Die Inputzahlen weisen heute eine massiv bessere Qualität auf – die Forecast-Genauigkeit katapultierte sich in den Industrie-Benchmark-Bereich. Was auch den Osram-Controllern gefallen wird: Sie müssen nun seltener Gewehr bei Fuß stehen.