Lieferkette : Pioniere des Digitalen

Als es losging, war Johann Soder entsetzt. "Ich habe mich ernsthaft gefragt, ob ich in den Jahren davor alles falsch gemacht hatte", erzählt der Technik-Geschäftsführer der SEW-Eurodrive. Auf maximale Einfachheit hatte er die Produktion getrimmt, hatte das "Lean"-Prinzip nahezu ausgereizt, und die Erfolge gaben ihm Recht. Dann kam Industrie 4.0, die Rede war plötzlich vom Internet of Things. Johann Soders erste Assoziation: Das bedeutete maximale Automatisierung, "und das klang definitiv nach wieder deutlich erhöhter Komplexität". Nach der Schrecksekunde drehte er den Spieß einfach um. Er nahm den Lean-Ansatz als Basis und kombinierte ihn mit den Grundsätzen von Industrie 4.0. "Lean Industry 4.0" nennt er das. Und schaffte damit einen "Quantensprung an Fehlerfreiheit".

Was der Getriebe- und Motorenbauer im deutschen Bruchsal damit schaffte, ist mehr als nur Effizienzsteigerung. Es ist die greifbare und messbare Umsetzung eines Themas, das sich permanent im Theoretischen und Zukünftigen verliert, statt Fakten zu schaffen: Industrie 4.0 hat Case Studies dringend nötig. INDUSTRIEMAGAZIN hat sich drei Umsetzungen angesehen, die beweisen, wie konkret Industrie 4.0 mittlerweile geworden ist.

Sie nennen sie "Logistik-Kapseln" oder "Assistenten". Selbstfahrende, miteinander vernetzte, frei im Raum operierende Einheiten, die sich selbst ihren Weg zu den Fertigungsinseln bahnen. An Bord: die Ware und alle dazu verfügbaren Informationen. Cyberphysische Systeme also, und in ihnen steckt viel von Johann Soder. Was hier durch die Produktionshalle der SEW-Eurodrive in Bruchsal kurvt, wurde nicht nur vom Technik-Geschäftsführer höchstselbst entwickelt und zusammengebaut – es ist das Produkt einer jahrelangen intensiven Auseinandersetzung mit Prozessoptimierung.

"Ich bin in unserem Unternehmen so etwas wie der kreative Zerstörer, der alle paar Jahre die Prozesse auseinandernimmt, um neue zu schaffen", sagt Soder. Der Grundgedanke, die Wertschöpfungskette mit intelligenter IT zu unterstützen, exprimierte sich schon vor drei Jahrzehnten, als SEW eine der ersten Fabriken nach den Grundsätzen des Computer-integrated Manufacturing errichtete. Doch die Computer waren noch nicht leistungsfähig genug, das Werk konnte die gewünschten Stückzahlen nie erreichen. "Also haben wir das Ganze im Jahr 1987 wieder rückgebaut", erzählt Johann Soder.

Mit der Verbreitung des Lean-Gedankens war er wieder in seinem Element: Mehrere Jahre lang optimierte Soder die Abläufe bei SEW-Eurodrive vor allem in den Bereichen Produktion und Organisation nach Lean-Ansätzen. Die klassischen "Fraktale" wurden eingeführt, die von Mitarbeitern wie von "Unternehmern" geführt wurden. Die Reduktion der Komplexität stand hinter allem, was Soder tat, und der Erfolg war durchschlagend: "Um 30 bis 35 Prozent konnten wir die Produktivität steigern."

Dirigenten der Wertschöpfung

Erfahrungen, die Johann Soder davor bewahrten, angesichts des Industrie-4.0-Hypes die Nerven wegzuschmeißen. Sein kombinatorischer Ansatz von Lean und Industrie 4.0 basierte von Beginn an auf dem Versprechen an sich selbst, "mir jeden Schritt in Richtung Automatisierung streng zu verbieten. Denn es geht ausschließlich um die Frage: Wie kann ich Technik gestalten, um die Menschen zu unterstützen, sie zu Beteiligten, zu Dirigenten der Wertschöpfung zu machen?" Johann Soders mobile Montageassistenten tun genau das: Sie unterstützen die Mitarbeiter statt sie zu ersetzen. "Und die daraus resultierende Fehlerfreiheit war ein echter Quantensprung für uns."

Metaebenen

Ein Erfolg, aus dem Soder seine Schlüsse zieht: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man diese Basis des Lean Management haben muss, um Industrie 4.0 sinnvoll einzusetzen. Wenn Sie einfach nur Automatisierung über Ihre Prozesse stülpen, wird das schiefgehen. IT und Automation alleine werden es nicht richten." Eine Philosophie, die bei SEW-Eurodrive keineswegs auf die Produktion beschränkt ist. Auch die Logistik wurde in den vergangenen Jahren komplett auf "smarte Logistik" umgekrempelt. Der nächste Schritt, gerade im Entstehen, wird die Vernetzung der einzelnen SEW-Werke untereinander sein. "Dieser Ansatz", meint Johann Soder, "ist im Grunde der gleiche, mit dem man letztlich ganze Städte versorgen kann, wir nähern uns hier also durchaus dem Bereich der Urban Logistics."

Und genau deshalb schmerzt Soder die Tatsache, dass so viele Industrie-4.0-Ansätze ins Leere gingen. "Ich habe den Eindruck, dass viele nur an der Oberfläche handeln, und darum gibt es auch so wenige gute Praxisbeispiele und so viele voneinander isolierte Elemente. Natürlich habe ich die Befürchtung, dass diese Herangehensweise das Thema Industrie 4.0 diskreditieren kann. Doch das ist gefährlich, denn schließlich geht es hier um viel mehr als um Smart Factories – es geht letztlich um die Zukunft der ganzen Welt."

"Unser erstes Ziel war das Schaffen von Transparenz. Also die Frage: Wie komme ich eigentlich an die Daten heran?" Andreas Müller, Projektleiter für Industrie-4.0-Anwendungen in der Logistik bei Robert Bosch, hat es mit einer Menge produktspezifischer Daten zu tun, die je nach Herkunft aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden: Sie kommen aus der Entwicklung, der Logistik, der Produktion. Und dann gibt es noch die Anwenderdaten der Kunden und jene der Zulieferer, deren Integration (und Rückkoppelung) auch sinnvoll wäre.

Die Lösung, die man im Homburger Werk von Bosch fand, holte sich im vergangenen Herbst den Logistik-Award des Verbandes der deutschen Automobilindustrie VDA: Für die vollständige Digitalisierung von physischen Warenströmen, also die komplette Virtualisierung der Lieferkette.

Verbindliche Standards

Das Datensammeln ist selbstverständlich kein Selbstzweck. Am Ende sollen getaggte Produkte stehen, die über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg eindeutig identifizierbar sind. Bosch agiert als Partner des RAN-Projekts (RFID-based Automotive Network), an dem Automobil- und Zulieferriesen wie Daimler, Opel, BMW, Siemens oder SAP beteiligt sind. Deren Ziel: die Entwicklung allgemein verbindlicher Standards zur Steuerung produktionslogistischer Prozesse mit Hilfe von RFID. Das RAN-Projekt vergibt zwar schon heute weltweit einheitliche Nummern. Doch der nächste Schritt, mit RFID getaggte Behälter, ist erst rund um den kommenden Jahreswechsel zu erwarten. Gesucht war also eine Art Zwischenlösung.

RFID für Kanban

"Als Einstieg in dieses Thema haben sich einerseits die Verbrauchssteuerung und andererseits die Kanban-Karten angeboten", sagt Andreas Müller, "auch wenn Letztere rein technisch natürlich fast banal sind. Die Verbindung dieser beiden Bereiche, also der physischen und der virtuellen Welt, haben wir über RFID zustande gebracht." Im Pilot-Werk von Robert Bosch in Homburg schafften Müller und sein Team die durchgängige, unternehmensübergreifende Digitalisierung des Datenaustauschs – womit Daten nun erstmals in Echtzeit und über Unternehmensgrenzen hinweg geteilt werden können.

Dass die dabei eingesetzte Technologie selbst völlig unspektakulär ist, räumt Müller bereitwillig ein. "Aber das Wesen von Industrie 4.0 ist ja im Kern nur, dass Objekte einander identifizieren können. Es geht also um Prozesse und nicht um die Technik per se. Auch getaggte Behälter sind nicht intelligent – aber sie können einer Maschine mitteilen: Ich bin’s." Das sei schließlich die Minimalanforderung von Industrie 4.0. Und zur Not könne es eben auch mal eine Kanban-Karte sein. "Wir nähern uns also über das Papier den physischen Objekten, das ist eine schrittweise Evolution."

Dass das prämierte Projekt nur ein Teil der Beschäftigung mit Industrie 4.0 ist, passt zu dieser Sichtweise: Der Automobilzulieferer, erzählt Andreas Müller, sehe sich derzeit die unterschiedlichsten Ideen an und versuche, sie miteinander zu kombinieren. Smart Glasses etwa oder das Thema der dynamischen Transportsteuerung werden zur Zeit intensiv beharkt. "Wir testen derzeit auch Sensoren in den Behältern, die Parameter wie Temperatur oder Erschütterungen messen – wir wollen also nicht nur wissen, wo etwas transportiert wird, sondern auch wie."

"Evolution" bedeutet in diesem Falle leider auch: harte Prozessarbeit. "Das geht nicht auf einmal, und das geht nicht per Verordnung von oben", betont Müller. "Die Implementierung von Industrie 4.0 ist ein Prozess, in dem man keinen Schritt auslassen darf. Es geht um Intelligenz, also um Regeln – aber die müssen Sie sich hart erarbeiten und auch begreifen. Erst dann kann man Regeln auch in IT gießen."

Die Produktionslinie ist eine Lehrplattform, und das Werkstück ist ein Modell. Doch die Anlage von Festo Didactic und das MES-System von SAP werden derzeit als wirklichkeitsnahe Umsetzung von Industrie 4.0 gefeiert. Der Werkstückträger, der sich vollautomatisch entlang der Produktionslinie bewegt, ist mit einem RFID-Chip ausgestattet, über den die Informationen zu jedem einzelnen Bearbeitungsschritt aus den IT-Systemen gezogen und weitergegeben werden können. Die Produktionslinie funktioniert nicht nur papierlos. Auch Menschen greifen hier nicht mehr unmittelbar in den Prozess ein. Die Anlage steuert sich selbst und wird überwacht – im Bedarfsfall optimiert. "Das ist die Automatisierung des Produktionsprozesses für die Massenproduktion von individuell konfigurierbaren Produkten in kleinen Stückzahlen", sagt Sunita Mathur. "Nicht sichtbar an der Anlage ist die Automatisierung der dem Produktionsprozess vorgelagerten Prozesse. Mit Visual Enterprise haben wir das Missing Link zwischen den Meta-Daten der Konstruktionsdaten und der ERP- und MES-Welt entwickelt, das auch diese Lücke schließt. Erst beide Innovationsschritte zusammen erzielen die gewünschte Agilität und Kosteneffizienz."

Der Industrie-4.0-Spezialistin bei SAP schwebt bereits die nächste Ausbaustufe vor: "Stellen Sie sich vor, wie viel Verluste man vermeiden könnte, wenn man die fehlerhaften Werkstücke, die heute ausgesondert werden, in den Verarbeitungsprozess reintegriert. Oder den Verarbeitungsprozess je nach Abnutzungsgrad eines Tools vollautomatisch optimiert. Das ist im Grunde alles schon angelegt: Denn ich kenne ja heute bereits die komplette Biografie jedes Werkstücks, jeder Anlage und jedes Werkzeuges."

"Use Cases"

Dem Thema, sagt Mathur, könne man angesichts der Schwammigkeit des Begriffs nur über die Konkretisierung, über die Unterscheidung nach Applikationen begegnen. Der Maschinen- und Anlagenbau bilden neben Losgröße 1 einen weiteren solchen "Use Case" bei SAP: Industrie 4.0 bedeutet hier vor allem das Finden neuer After-Sales-Geschäftsmodelle oder neuer Bezahl-Modi. Sensorikgestütztes "Outsourcing 4.0" quasi, ein Szenario, an das sich viele Unternehmen bereits gewöhnt haben. Mit Predictive Maintenance kommt Industrie 4.0 in Produktionsunternehmen und bei Infrastrukturanbietern zum Einsatz, um Wartungskosten zu senken und unerwarteten Ausfällen vorzubeugen.

Ganz anders der Zugang im Bereich der Mobilen und Automotive-Welt: der Versuch, Menschen auf Basis ihrer Location und ihrer Vorlieben Services anzubieten. Auch der Einsatz der Cloud als virtueller Market Place, um logistische Prozesse zu koordinieren, ist Industrie 4.0. Ein Bereich, in dem Anbieter wie SAP längst Standardmodelle entwickelt haben.

Gerade in der hochautomatisierten Prozessindustrie führt die Diskussion um Industrie 4.0 oft zu Irritationen. Hier liegt schon komprimierte Big Data in vielen Historiensystemen vor, und Industrieanlagen werden von komplexen Leittechnikrechnern gesteuert. "Industrie 4.0 ist nicht gleichzusetzen mit dem Archivieren von Produktions- und Qualitätsdaten zum Zweck der Reklamationsbearbeitung und auch nicht mit der Realtime-Optimierung einer einzelnen Anlage, meint Mathur, "Industrie 4.0 gibt den Anlagentechnikern neue Werkzeuge in die Hand, um komplexe Anlagen intelligent zu interaktiven Systemen miteinander zu verknüpfen."

Zwischenschritte

Dass die Unternehmen hier den Überblick verlieren und Industrie 4.0 letztlich doch im Bereich des Schwammigen verorten, glaubt Sunita Mathur nicht. "Die meisten wissen sehr genau, welcher Teil des Ganzen sie betrifft." Unter welchem Aspekt auch immer man Industrie 4.0 letztlich betrachtet – "über Power Point wird das jedenfalls nicht transparent."