Branchenkonjunktur : Pharmazeutische Industrie: Zukunftsfit

Der Gemeine Holzbock trägt sein Wesen schon im Namen. Er ist ein fleißiger Überträger des FSME-Virus – und als solcher naturgemäß jene Art der Schildzecke, die Forscher der MedUni Wien und des Pharmariesen Baxter nicht zur Ruhe kommen lässt: Die von Ixodes ricinus übertragene Borreliose-Infektion lässt sich nur im Anfangsstadium im Zaum halten. Gegen Langzeitfolgen wie Lähmungen oder Schlafstörungen dagegen gibt es bis heute keine echte Hilfe. Eine Impfung könnte vor Dauerschäden schützen – die Ergebnisse in den beiden ersten klinischen Studienphasen sind auch ermunternd. In fünf bis acht Jahren könne man mit dem Impfstoff rechnen, meinte ein Wiener Infektologe kürzlich in Ö1. Ein Optimismus, der freilich nicht allerorten geteilt wird. Der Weg bis zur Zulassung ist nämlich ein steiniger. Entscheidet sich der Hersteller Baxter wirklich für die Borreliose-Impfung, müsste er Phase III der klinischen Prüfung – die Erprobung des Impfstoffs an über 10.000 Testpersonen – überstehen. Dann erst könnte er bei der Europäischen Arzneimittelagentur einen Antrag auf Zulassung des Wirkstoffes stellen. Und das kostet Geld. Viel Geld.Lesen Sie weiter: Standort Österreich ließ Federn

Die Episode vom Gemeinen Holzbock: Sie steht stellvertretend für die angespannte Lage in der pharmazeutischen Industrie. Nur mühsam – und unter enormer Mittelaufbringung – erkämpfte Erfolge in der Forschung und wachsender Preisdruck zehren am Geschäft der ganzen Branche. Die Entwicklung eines innovativen Medikamentes kostet heute im Schnitt bis zu 1,9 Milliarden Dollar – 2001 lag der Wert noch bei 802 Millionen Dollar. Von 10.000 Anfangssubstanzen erlangt im Durchschnitt nur eine einzige als Medikament die Zulassung. Für viele Substanzen stellt sich erst in der Phase-III-Studie heraus, dass sie nicht genügend wirksam sind oder zu belastende Nebenwirkungen haben. Dazu kommt: Der einst boomende Pharma- und Forschungsstandort Österreich hat in den letzten Jahren Federn gelassen. Doch Diversifizierung – und neue Absatzfelder in der personalisierten Medizin – sorgen trotzdem für Optimismus. Abzug der Großen Baxter ist mit heute 4.000 Mitarbeitern das mit Abstand größte Pharmaunternehmen Österreichs. 900 Forscher aus aller Welt arbeiten an den beiden Standorten in Wien und Orth an der Donau. Damit ist der Betrieb unter den „Big-Pharma“-Konzernen aber mittlerweile in Österreich sehr einsam. Internationale Pharmaunternehmen haben Österreich längst ganz oder teilweise den Rücken gekehrt. 2005 verlor die Hauptstadt das Österreich-Headquarter des Generikaproduzenten Sandoz an München. 2008/09 zog Novartis über Nacht seine Forschungsabteilung mit 250 Mitarbeitern aus Wien-Liesing ab. Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen: Bis 2014 will Roche Diagnostics sein Werk in Graz mit 400 Arbeitsplätzen schließen. Bei der Arzneimittelproduktion liegt Österreich damit mit einem Wert von 292 Euro pro Kopf wenig überraschend deutlich hinter den führenden europäischen Pharmanationen Schweiz, Deutschland, Italien und Frankreich, die einen Schnitt von 866 Euro in die Waagschale werfen (Platz 1: Schweiz mit 3.809 Euro).Lesen Sie weiter: Markt-Kannibalisierung

Zugleich herrscht ein tödlicher Preiskampf, den Patentabläufe bei den umsatzstarken Arzneien anheizen. 2012 war so gesehen ein Jahr des Schreckens. In diesen zwölf Monaten verloren die Konzerne Patente für Arzneien, die insgesamt einen Umsatz von 33 Milliarden US-Dollar (27 Milliarden Euro) einspielten. Aus einem Blockbuster wird so ganz schnell ein Generikum, das zu einem Bruchteil des Preises gemixt werden darf. Bis 2018 werden Patente für weitere 290 Milliarden US-Dollar Umsatz verloren gehen – fast ein Drittel des derzeitigen Marktes. Die beiden Mittel mit den weltweit höchsten Umsätzen haben ihre US-Patente bereits verloren: Der Blutverdünner Plavix (9,3 Milliarden US-Dollar Umsatz weltweit) von Sanofi im Mai 2012, der Cholesterinsenker Lipitor von Pfizer (12,5 Milliarden) mutierte bereits im Herbst 2011 zum Generikum. Der Erlös des Konzerns brach daraufhin 2012 um zehn Prozent ein. 2013 rechnet Konzernchef Ian Read mit einem weiteren Umsatzrückgang. Für den Kunden sind die Auswirkungen zumindest erfreulich. Eine Arznei, die in Österreich vorher 11,32 Euro gekostet hat, wird als Generikum um 5,56 Euro angeboten. Die Ersparnis für das heimische Gesundheitssystem: Allein bei diesen Medikamentengruppen satte 100 Millionen Euro. Lesen Sie weiter: Einstieg ins Generika-Geschäft

Immerhin: Die Erstanbieter haben die Entwicklung kommen sehen. Die Pharmakonzerne diversifizieren, sie steigen im großen Stil selbst ins Generika-Geschäft ein. Der Pharmariese Pfizer hat im Konzern eine eigene Generika-Gruppe aufgebaut, andere haben zugekauft. Dadurch bleiben die Unternehmen in den immer stärker sparenden Industrienationen im Rennen. Und partizipieren an den boomenden Gesundheitsmärkten der BRIC-Staaten – wenn auch nicht mehr so toll wie früher. Glaubt man den Beraterköpfen von Roland Berger, Ernst & Young oder PwC, dann müssten erfolgreiche Konzerne jetzt ihr Heil in der „personalisierten Medizin“ suchen. Da werde die Medikation auf individuelle – oder zumindest gruppenspezifische – Eigenheiten zugeschnitten. Krebs wird in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft zum Massenphänomen – kann aber nur persönlichkeitsbezogen therapiert werden. Womöglich wirklich ein letztes Schlupfloch – denn die auslaufenden Blockbuster lassen sich kaum ersetzen. Für die weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten Diabetes, Hypertonie oder hohe Blutfette gibt es bereits Therapien, die jetzt einfach billiger zu haben sind. Die Chancen auf weitere Blockbuster sind rarer als früher – aber es gibt noch genug zu tun. Das ultimative HIV-Medikament, die verträgliche Abnehm-Pille, das Antibiotikum ohne Restistenzproblematik, das Mittel gegen Alzheimer und Parkinson: Die ökonomischen Perspektiven sind intakt.Lesen Sie weiter: „Österreich ist Pharma-Niedrigpreisland“

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Huber, Österreich gibt rund 11 Prozent seines BIP für Gesundheit aus. 2011 waren das 32 Milliarden Euro. Wir haben ein Kassensystem, eine rekordverdächtige Anzahl an Krankenbetten pro Einwohner, Ärzte sind in ihrer Wahl der Medikamente weitgehend frei. Ist Österreich das Schlaraffenland für Arzneimittelhersteller? Jan Oliver Huber: Sie können mir glauben: Ein Schlaraffenland schaut anders aus. Das Geschäft mit Arzneien ist auch in Österreich härter geworden – und zwar deutlich. Auch wenn immer das Gegenteil in den Raum gestellt wird: Österreich ist im Pharmabereich eindeutig ein Niedrigpreisland für die Industrie. Nur 13,1 Prozent aller Gesundheitsausgaben werden hierzulande für Arzneimittel ausgegeben, im OECD-Schnitt beträgt der Anteil 17,4 Prozent. Tatsache ist, dass der Hauptverband der Sozialversicherungsträger die ständig steigenden Medikamentenkosten ins Treffen führt. Huber: Die Situation hat sich für die Krankenkassen entspannt. 2008 lagen die Steigerungsquoten noch bei 7 Prozent, 2011 nur mehr bei 0,9 Prozent. Man kann derzeit von Stagnation reden. Darüber hinaus bezahlt die Pharmawirtschaft einen Solidarbeitrag von 82 Millionen Euro bis Ende 2015. Eigentlich gäbe es heute keinen sachlichen Grund mehr für diesen Solidarbeitrag. Wir zahlen ihn aber trotzdem und stärken damit die Leitungsfähigkeit der Krankenkassen. Die Dämpfung der Medikamentenkosten in Österreich hat aber eher mit dem verstärkten Zugriff auf Generika und weniger mit der Großzügigkeit der Pharmaindustrie zu tun. Huber: Generika sind einer von vielen Gründen, warum Arzneikosten nicht das Problem des österreichischen Gesundheitssystems darstellen. Aber letztlich müssen die Pharmaunternehmen die Preise senken und auch verkraften. Die Kassensanierung wurde vor allem durch die Pharmawirtschaft und die Bundesregierung getragen. Andererseits haben wir einen hohen Anteil an Krankenhausbetten und immer noch hohe Zahlen bei den stationären Aufenthalten, ohne dass sich daran etwas Nennenswertes geändert hätte. Präventivmedizin ist immer noch total unterdotiert. Es gäbe viele Wege, aus den 11 Prozent unseres BIP mehr herauszuholen. Ich bin sicher, dass der Pharmabereich seinen Effizienzbeitrag geleistet hat und immer noch leistet.