Schraubsystem : NMR-Spektrometer mit Werkerführung und Positionserkennung montiert
"Kernspinresonanz-Spektrometer sind hochkomplexe Geräte, bei deren Entwicklung wir uns immer an physikalischen Grenzen bewegen", sagt Kurt Rusch, Projektleiter bei Bruker BioSpin. Am Standort im schweizerischen Fällanden stellt Bruker Kernspinresonanz-Spektrometer (NMR-Spektrometer, "NMR" von Englisch "nuclear magnetic resonance") für Forschungslabore, Hochschulen und Institute her, die die Zusammensetzung von Stoffen analysieren. Zentraler Kern der Messgeräte sind in mehreren Kreisen angeordnete Magnete als wichtigste Elemente für die Messungen. "Vereinfacht kann man sagen, sie versetzen die Probe, die im Zentrum der Magnetkreise platziert wird, in Schwingung", erklärt Sandor Karsai, Abteilungsleiter für Magnetmontage. "Anhand der elektromagnetischen Signale der einzelnen Moleküle oder Atome können die Anwender die Inhaltsstoffe der Probe bestimmen."
Bei den Magneten, die mit 20 bis gut 100 Schrauben auf einer passenden Bodenplatte montiert werden, können im Betrieb seitliche Kräfte entstehen. Damit sind diese Schraubverbindungen mindestens funktionskritisch. "Bis vor kurzem haben wir die Magnete mit einem Drehmomentschlüssel manuell an die Bodenplatte geschraubt", berichtet Sandor Karsai. Für die Montage seien jeweils zwei Mitarbeiter nötig gewesen, von denen einer die Schrauben anzog und der andere das Werkstück gegenhielt. "Eine erste Verbesserung haben wir mit einer Haltevorrichtung erreicht, aber wir brauchten zur Qualitätssicherung via Vier-Augen-Prinzip immer noch zwei Mitarbeiter." Im vergangenen Jahr wurde die Station dann komplett umgebaut und mit einem halbautomatischen Schraubsystem plus Visualisierung von Atlas Copco Tools verschlankt. Jetzt ist für diese Montage nur noch ein Mitarbeiter nötig. Er zieht die Schrauben mit einem elektronisch gesteuerten Schraubwerkzeug, einem Tensor ST, sehr komfortabel und prozesssicher an.
Mitarbeiter sitzt unter einem Gestell, das den Magneten trägt
Der Arbeitsplatz sieht heute ganz anders aus als früher: Kurt Rusch hat ein stabiles Podest konzipiert, eine Art Werkbühne, auf der runde Lochmuster-Scheiben mit einem Durchmesser von maximal einem Meter angebracht sind. Auf diesen Vorlagen werden die zu montierenden Bodenplatten mit ein paar Schrauben fixiert. "Der Mitarbeiter sitzt jetzt ergonomisch auf einem Drehstuhl unter der Vorrichtung und sieht auf einem Monitor ein Abbild der gesamten Bodenplatte. Welche Schraubstelle als nächste dran ist, wird ihm farblich angezeigt", sagt Rusch. Der Mitarbeiter muss nur noch die Schraube auf den Bit setzen und das Werkzeug an die Schraubstelle heranführen. Der Monitor ist nebst AX1-Drehmomentarm mit Positionserkennung, dem Tensor-Schrauber und einer Power-Focus-Steuerung von Atlas Copco Tools an der Mittelsäule des Podests angebracht. "Die ganze Station ist somit um die vertikale Achse schwenkbar", sagt Kurt Rusch und führt vor, wie das Schraubsystem unter die verschiedenen Bodenplatten gedreht werden kann. Der Tensor am Positionierarm kann fast gewichtlos an die Schraubstelle manövriert werden. "Ein leichter Andruck genügt, um die Schraube mit dem korrekten Drehmoment anzuziehen." Derzeit liegen acht Musterscheiben nebeneinander auf der Bühne, auf denen die passenden Bodenplatten nacheinander bearbeitet werden können. Mit jeder Musterscheibe können mehrere Spektrometer-Varianten gefertigt werden.
Magnetspulen aus Multifilament-Supraleitern
Bruker Biospin fertigt etwa 450 komplette Systeme pro Jahr - die Kunden bestellen in der Regel fürs nächste Quartal oder Jahr vor. Eine Besonderheit der Bruker-Spektrometer ist, dass die verbauten Magnete abgeschirmt sind. Damit können die Messgeräte in Laboren relativ eng gestellt werden, ohne dass sich die Magnetfelder gegenseitig stören. Zu den kritischen Fertigungsschritten zählt die Wicklung der supraleitenden Magnetdrähte. "Unsere Mitarbeiterinnen sind in der Lage, die Drähte mit einer Genauigkeit von 0,5 Millimetern zu wickeln", sagt Karsai. Pro Spule würden - je nach Modell - viele Kilometer Draht verbaut, die einzelnen Filamente hätten zum Teil Durchmesser von nur 5,6 µm. "Es gibt Multifilamentleiter, bei denen wir auf einer Fläche von 1,83 mal 1,22 Millimetern 17000 Filamente unterbringen - im Querschnitt natürlich."
Die Magneten sind in nahezu "absolut" dichten Behältern mit flüssigem - hochflüchtigem - Helium untergebracht. Alle Spektrometer sind extrem kompakt gefertigt, um Helium zu sparen, das sonst für den Kunden teuer würde - und die Funktionsfähigkeit des Messgeräts beeinträchtigt, wenn es sich verflüchtigt. Denn das Gas wird auf -273 °C herunterkühlt, die Magnetspulen werden dann unter Strom gesetzt. Nur bei dieser Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt sind Supraleiter elektrisch leitfähig - und, das ist ihr riesiger Vorteil - dann widerstandslos. Der Strom könnte theoretisch unendlich fließen. Um dieser Theorie so nahe wie möglich zu kommen, arbeiten bei Bruker BioSpin besonders viele Physiker.
Schraubsystem erkennt alle Bedienungs- und Materialfehler
Dass die Magnete in der korrekten Position gehalten werden, stellen wiederum die rund 50000 Schrauben sicher, die jährlich an der neuen Arbeitsstation montiert werden. Auch wenn die Montage jetzt wesentlich schneller geht und weniger Manpower benötigt, stand bei der Entscheidung für das gesteuerte Schraubsystem vor allem die Prozesssicherheit im Vordergrund, betonen die beiden Fachleute Rusch und Karsai. "Jeder Mensch kann Fehler machen, keiner ist jeden Tag gleich aufmerksam", sagt Rusch. "Bei so vielen Schrauben kann man auch mal eine vergessen. Und auch die Schrauben selbst können fehlerhaft sein, was man mit bloßem Auge nicht erkennen kann. All diese Fehler werden jetzt durch die neue Schraubstation ausgeschlossen."
Wenn es beim Gewinde zum Beispiel Qualitätsprobleme gebe, es schlecht geschnitten oder beschädigt sei, würde dies sofort vom Schraubsystem erkannt. Selbst geringfügigste Längenunterschiede würden detektiert. Das sei besonders wichtig, weil zu lange Schrauben die Magneten beschädigen könnten. Oder es könnte sich das Magnetfeld ändern, was erst beim Schlusstest bemerkt würde. Man müsse außerdem sicherstellen, dass jeweils Unterlegscheiben mit montiert werden. Auch etwaig verschmutzte Gewindegänge werden nun von der Steuerung erkannt und als Fehler detektiert, erklärt Rusch.
Steuerung zählt Gewindegänge und Schrauben mit und gibt Reihenfolge vor
Die Steuerung zählt jeden Gewindegang und jede Schraube mit, so dass keine mehr vergessen wird. Und sie hält die Mitarbeiter per Visualisierung zu einer vorgegebenen Reihenfolge an. "Wir können nur jeweils die Schraubstelle bearbeiten, die gerade am Monitor angezeigt wird", erklärt Karsai und zeigt auf den Bildschirm. Dort ist die jeweils nächste Schraubstelle farblich markiert. Ein "Fadenkreuz" steht für die X- und Y-Achse, in der das Schraubwerkzeug zur Schraubstelle geführt werden muss. "Es ist eigentlich nicht mehr möglich, einen Fehler zu machen." Inzwischen beherrschen alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die Bedienung der neuen Montagestation. "Das Einlernen geht sehr einfach und schnell", betont Karsai. "Bei der Schulung erkläre ich den Kollegen immer, dass sie sich die Station als Playstation vorstellen sollen. Der Blick geht zum Bildschirm, die Hände steuern den Ablauf." Die Lösung von Atlas Copco sei auch deshalb ideal, weil der Automatisierungsgrad genau zu den Anforderungen von Bruker Biospin passe. Der Faktor Mensch sollte zwar weniger Einfluss erhalten, aber nicht wegfallen.
Alle Mitarbeiter haben die Station gut angenommen, denn die Montage ist jetzt wesentlich ergonomischer. "Im Zentrum des Spektrometers, wo sich die höchste Kraft entwickelt, müssen die Schrauben mit Drehmomenten von etwa 40 Newtonmetern angezogen werden", sagt Kurt Rusch. "Da ist das Anziehen mit dem Tensor am Positionierarm deutlich komfortabler als früher die manuelle Montage mit physischem Gegenhalten." In der Peripherie reichten Drehmomente ab 9 Nm aus. In der Steuerung hat Sandor Karsai die unterschiedlichen Drehmomente pro Schraubstelle hinterlegt.
Die Software wurde von Atlas Copco erstellt. Die Schraubtechnik-Experten haben bei Bruker auch die Mitarbeiter geschult. Sandor Karsai programmiert wiederum die Schraubstellen, wenn neue Spektrometer ins Programm aufgenommen werden. Derzeit seien 15 Platten im Einsatz, für die Schraubstellen programmiert wurden. Ein- bis zweimal jährlich gibt es neue. "Dass wir flexibel sind und neue Produkte jederzeit dazu nehmen können, war uns bei der Auswahl der Schraubstation wichtig", betont Karsai.
Dokumentation in SQL-Datenbank
Ein paar Monate nach der Inbetriebnahme der Station schafften die Schweizer die Software ToolsNet 4000 von Atlas Copco an. Nun können alle Schraubdaten zur Dokumentation manipulationssicher digital in einer SQL-Datenbank abgelegt werden. "Damit können wir nachweisen, dass bei der Auslieferung alle Verbindungen in Ordnung waren. Das kann im Falle von Produkthaftungsfragen wichtig werden", weiß Kurt Rusch. Mit ToolsNet 4000 kann Bruker den Montageprozess außerdem besser überwachen, analysieren und optimieren. Das Programm sammelt die Produktionsdaten und liefert eine vollständige Übersicht über alle Montageprozesse. Jede einzelne Verschraubung wird dokumentiert, so dass jederzeit die Kontrolle über die Endprodukte gewährleistet ist und gleichzeitig die Möglichkeit besteht, den Schraubprozess zu optimieren. "Wir gehen damit nun weg von der Manufaktur hin zur Digitalisierung", sagt Kurt Rusch. "Die Montage der Bodenplatte haben wir als kritisch erkannt und daher als erste Priorität bearbeitet." Bald sollen weitere Prozessschritte bei der Herstellung der NMR-Spektrometer digitalisiert oder automatisiert werden.