Interview : Magna-Chef Apfalter: "Hunderttausende Autos können derzeit nicht gebaut werden"

Magna-Chef Günther Apfalter
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Als Frank Stronach bei Magna noch das Sagen hatte, fanden Gespräche im schlossartigen Headquarter in Ebreichsdorf statt. In der Auffahrt, beim Portal, am Empfang – überall war die Botschaft des steirisch-stämmigen Austro-Kanadiers spürbar: Seht her – ich habe es geschafft.

Stronachs Ära bei Magna ist vorbei. Glanz und Gloria sind abgeschafft, Ebreichsdorf ist verkauft. Ein Treffen mit Günther Apfalter findet in einem Büro-Turm am Wienerberg statt. Die Magna-Gruppe hat sich ganz zweckmäßig neben Chemikalien-Händlern und IT-Spezialisten eingemietet. Die nüchterne Effizienz-Politik des zum Jahreswechsel abgetretenen Langzeit-CEO Don Walker durchdringt Magna bis in die letzte Produktionslinie, egal ob in Shanghai, Casablanca oder Weiz.

Apfalter ist einer der drei einflussreichsten Entscheider im 160.000 Mitarbeiter-Konzern Magna und – neben dem anderen (Ex-)Magna-Mann Sigi Wolf – der mächtigste Auto-Manager Österreichs. Der gebürtige Oberösterreicher hat vergangenen Sommer seinen wahrscheinlich letzten Karriereschritt getan: Zusätzlich zu seinem Verantwortungsbereich Europa ist er seit Juli für die Standorte und Geschäfte in Asien zuständig. Dies bedeutet einen deutlichen Zuwachs an unmittelbarem Einfluss: Allein in China verfügt die Magna-Gruppe über 54 Standorte. Das Avancement Apfalters hat direkt mit der Berufung von Swami Kotagiri zum neuen CEO von Magna zu tun: Apfalter gilt als stabilisierender Flügelmann des zehn Jahre jüngeren Kotagiri.

Magna durchtaucht die Pandemie weltweit mit leichten Umsatz (-17 Prozent)- und deutlichen Ertragseinbußen (-34 Prozent EBIT). Während die Geschäfte in China und den USA wieder auf Hochtouren laufen, zeigen die europäischen Standorte noch deutliche Schwächeerscheinungen. Das als Überdruckventil für den Standort Graz errichtete neue Produktionswerk in Marburg/Slowenien steht derzeit still. Es fehlt an Aufträgen für die Komplettfertigung, um beide Werke auszulasten. Mit ein Grund: Magna-Erwartungen für das digitale Apple-Auto „Titan“ blieben bis heute unerfüllt. Das Konzept des selbstfahrenden Autos taugt noch nicht zu Killer-App.

Ein aktuelles Problem der Autowirtschaft, das auch Magna deutlich spürt, liegt bei fehlenden Halbleitern. Der Mangel an Mikrochips bremst die Montagebänder weltweit. Der Sektor der Consumer Electronics verzeichnet gegenwärtig einen Boom. Der hohe Bedarf an integrierten Schaltkreisen geht auf Kosten der Automobilindustrie. Günther Apfalter rechnet mit „hunderttausenden von Autos“, die 2021 nicht gebaut werden können. Andere Schätzungen sprechen von Millionen Einheiten, die in den Werkshallen bleiben.

Für Magna Graz hat sich die Situation in den vergangenen zwei Jahren merklich verändert. Graz ist nicht mehr der einzige Standort für eine Gesamtfahrzeugproduktion im Magna-Kosmos. Der Konzern hat mittlerweile zwei Werke zur Entwicklung und Fertigung von Elektroautos bei Zhenjiang in Bau beziehungsweise im Anlaufen. In der Endstufe sollen pro Jahr 180.000 fertige Elektroautos engineered by Magna in China vom Band rollen. Unterzeichner der Rahmenverträge für die neuen Komplettproduktionen im Fernen Osten: Günther Apfalter.

Herr Apfalter, es ist exakt ein Jahr her, dass wir uns zum letzten Mal zu einem Gespräch getroffen haben. Damals standen wir am Anfang der Pandemie, Begriffe wie Inzidenzen oder Vektorimpfstoff waren noch nicht Teil unseres täglichen Sprachschatzes, das Werk Graz ging im März in einen Produktionsstopp und Sie befürchteten eine zweite Welle im Herbst. Wenn Sie nach 12 Monaten zurückblicken: Zu welchem Urteil kommen Sie?

Günther Apfalter Wir nehmen teil an einem hundertjährigen Ereignis. Im automotiven Industriebereich verfiel der Markt im zweiten Quartal in eine Schockstarre, in der er sich um 40 bis 50 Prozent und in manchen Ländern noch mehr reduziert hat. Dann hat die individuelle Mobilität durch die Pandemie zugenommen. Es wurden ab dem dritten und vierten Quartal wieder Autos gekauft. Der Trend hält auch an, ob das in China ist, ob das in Europa ist – und auch in Nordamerika.

Hat sich die Welt vor der Pandemie zu sehr gefürchtet?

Apfalter Ich sehe das pragmatisch: Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, erkranken rund 0,8 bis 1 Prozent an Corona. Für rund 1 Prozent werden 99 Prozent der Bevölkerung in Haft genommen.

In Haft genommen? So ein starkes Wort?

Apfalter Ja.

Das hat etwas Fatalistisches. Heißt das, man müsse sich dem Schicksal ergeben?

Apfalter Nicht ergeben. Man muss damit umgehen. Aus meiner Sicht fehlt die Bewertung der Kollateralschäden. Die sind deutlich spürbar: Ob sie politischer Natur sind, sozialer Natur, bildungsmäßiger Natur, wirtschaftlicher Natur. Die Bewertung der Auswirkungen eines Lockdowns fehlt.

Ich wende ein: Kollateralschäden kann man erst mit einem gewissen Abstand zum Ereignis beurteilen.

Apfalter Nein. Wir in der Wirtschaft bewerten bei unseren Unternehmensplanungen sofort, welche Entscheidung zu welchen Konsequenzen führt. Da wird nicht ins Blaue geschossen mit der Hoffnung, dass es gut gehen wird.

Welche Rolle spielt die Europäische Union?

Apfalter Es hat mich schockiert, dass die EU überhaupt nicht funktioniert hat. Das Erste, was getan wurde, war die Aufhebung der Reisefreiheit, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, besonders in den Grenzgebieten.

Aber ist es nicht logisch, dass ich bei einer Seuchenbekämpfung die Mobilität der Menschen einschränke?

Apfalter Ja. Aber das kann ich regional über Bezirke machen – den Verhältnissen angemessen. Wenn Deutschland dem Tiroler Landeshauptmann die Durchfahrt durch das deutsche Eck verweigert, dann ist dies politisches Kleingeldwechseln.

Aber ist es nicht viel zu kleinteilig gedacht, den Gaststättenbesuch in ein paar Gemeinden einzuschränken und im Nachbarbezirk ein paar Kilometer weiter hat das Wirtshaus oder Restaurant offen?

Apfalter Wenn es Fallkonzentrationen in Bezirken oder Bundesländern gibt, dann muss ich die sozialen Kontakte einschränken. Aber dass die Staaten der EU gleich länderweise und national die Schranken runterlassen und keine einheitlichen Regelungen durchsetzbar sind, das verstehe ich nicht. Der aktuelle Zustand ist für den Einzelnen verwirrend. Das erinnert mich an Zeiten, in denen Passierscheine notwendig waren, um von A nach B zu kommen.

Sind Sie selbst schon geimpft?

Apfalter Nein.

Es heißt, Impfgegner sind mit dafür verantwortlich, dass die Pandemie für uns alle länger dauert. Folgt man den Schulmedizinern, hat die Verweigerung der Impfgegner gravierende Auswirkungen auf uns alle. Müssen wir so tolerant sein?

Apfalter Politik muss Konsequenz zeigen. Es hat in meiner Jugend verpflichtende Impfungen gegen Pocken und Polio gegeben. Es soll eine Pflicht beschlossen und umgesetzt werden. Es handelt sich um ein übergeordnetes gesellschaftliches Interesse und weniger um die Beschränkung der persönlichen Freiheit. Das gesellschaftliche Wohl steht über dem des Einzelnen. Hier darf sich die Politik nicht von einer Minderheit von Impfgegnern einschüchtern lassen.

Ihre persönliche Einschätzung: Bis wann haben wir das Gröbste hinter uns?

Apfalter Ende des Jahres, falls es genug Impfstoff gibt.

Herr Apfalter, mit der persönlichen Karriere ging es im letzten Jahr aufwärts. Sie haben die Zuständigkeit für Magna Steyr abgegeben und dafür die Verantwortung für Magna Asien, speziell für China, dazubekommen. Hat sich das in Ihrem Alltag niedergeschlagen?

Apfalter Der Tag dauert jetzt drei Stunden länger. Am Morgen habe ich die erste Telefon- oder Videokonferenz mit China. Zeitverschiebung sechs Stunden nach Osten. Und am Abend sechs Stunden Zeitverschiebung nach Westen, also Kanada beziehungsweise USA. Mit dem neuen CEO, Swamy Kotagiri, hatte ich schon immer ein gutes Verhältnis. Und wenn ein neuer CEO kommt, gibt es Änderungen im Management und im Management-Style. Da sind wir gerade dabei, das umzusetzen.

In einem Interview mit Stefan Pierer, dem Chef von KTM, kam zur Sprache, dass er große Probleme hatte, weil Zulieferer beispielsweise in Italien oder in Spanien nicht mehr liefern konnten. Gab es bei Magna auch derartige Erfahrungen?

Apfalter:Diese Peaks gibt es immer. Wir hatten Oktober letzten Jahres zu wenig Leder für Autositze. Wissen Sie, warum? Die Gastronomie hat wenig Fleisch abgenommen, es sind weniger Rinder geschlachtet worden und deswegen haben wir zu wenig Leder bekommen. Da standen Autos am Hof, bei denen man die Sitze nachgerüstet hat. Gegenwärtig gibt es ein ähnliches Problem mit Halbleitern. Wir gehen davon aus, dass heuer am Weltmarkt hunderttausende Fahrzeuge weniger gebaut werden. Auch eine Auswirkung der Pandemie, aber anders als Sie glauben: Die Consumer-Electronics-Industrie hat den Halbleiter-Markt aufgesaugt – für Tablets, für PCs und alles, was für Homeoffice und Distance Learning dazugehört. Die Autoindustrie, die circa 8 Prozent der globalen Halbleiterproduktion abnimmt, sitzt jetzt am Trockenen.

Was wird nach der Pandemie kommen? Glauben Sie an Steuererhöhungen? Wird sich die Arbeitslosigkeit wieder finden? Wird sich der digitale Schub wieder verlangsamen?

Apfalter Die Lessons learned werden sehr unterschiedlich sein. Der digitale Impact bleibt, der Tourismus wird sich sicher erholen. Und es ist viel Geld angespart worden, das wird hoffentlich wieder ausgegeben. Und die Covid-Ausgaben, die jetzt von der Regierung getätigt werden, werden wieder reingeholt werden. Solidaritätssteuer, Sondersteuer, wie man auch immer sagt.

Seit zehn Jahren ist die Rede vom digitalen Auto und dem Mobilitätseinstieg von Apple, Google und Co. Bislang ist Tesla der einzige Newcomer, der sich im Spiel der Großen positionieren konnte ...

Apfalter Tesla hat auch lange gebraucht, bis sie dort waren, wo sie jetzt sind. Das Thema „Autonomes Fahren“ ist etwas zurückgenommen worden. Die Tests haben alle gezeigt, dass der Level fünf noch weit weg ist. Und die Level eins bis drei werden an Fahrt gewinnen. Das sind Assistenzsysteme, die helfen, den Verkehrsfluss und die Verkehrssicherheit zu verbessern.

Es gibt eine Kooperation von Magna mit dem dänischen Autodesigner Henrik Fisker. Ende 2022 soll der Elektro-SUV Fisker Ocean in Graz gebaut werden. Dabei soll die Elektro-Architektur von Magna genutzt werden. Fachkreise berichten von einem Allradantrieb mit zwei Elektromotoren, die kombiniert rund 300 PS bringen. Der Innenraum soll voller Monitore sein und vegan gestaltet. Ich nehme mal an, damit fallen Ledersitze aus der optionalen Ausstattung ...

Apfalter Die Produktion des Fisker Ocean wird Ende 2022 in Graz starten. Ich kenne Henrik Fisker schon seit Jahren. Wir waren vergangenen Oktober in Wien zusammen essen, als die Restaurants noch offen waren. Da haben wir diese Idee geboren. Er ist ein sogenannter New Entrant. Sein erstes Modell Fisker Karma hat er 2011 in Finnland bauen lassen. Er ist eine charismatische Figur mit guten Ideen. Das Auto, das wir für ihn entwickeln und auch schlussendlich bauen werden, ist ein schönes Auto, ein gutes Auto, ein digitalisiertes Auto mit allen Features, die von der Gesellschaft gefordert werden. Ich bin mir sicher, dass das ein erfolgreiches Modell wird.

Von welcher Größenordnung sprechen wir?

Apfalter Über Stückzahlen müssen Sie Herrn Fisker befragen und nicht uns.

Sie sagen, Sie hätten die Idee gemeinsam geboren. Dann erzählen Sie uns mehr ...

Apfalter Ein traditioneller Autohersteller hat ein gewisses Image und bringt loyale Kunden mit. Ein New Entrant geht neu in das Automobilgeschäft, das ein sehr komplexes Business darstellt. Sie müssen tausende Teile zusammenbauen, die zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Qualität an einem Ort sein müssen. Und Sie müssen die Entwicklung bewerkstelligen. Magna stellt für Henrik Fisker einen Partner dar, der dieses Geschäft beherrscht. Wir kennen uns aus mit Entwicklung, Supply Chain, Produktion, und das alles in entsprechender Qualität. Wenn er mit diesem Produkt am Markt auftritt, soll er sicher sein, damit Erfolg zu haben: technisch, imagemäßig, qualitätsmäßig.

Welchen Stellenwert hat die Elektromobilität bei Magna?

Apfalter Wir bauen jetzt zwei Elektrofahrzeuge im Konzern. Das eine ist der Jaguar I-PACE, den wir seit 2018 in Graz fertigen. Und seit August letzten Jahres bauen wir in unserer chinesischen Joint-Venture-Fabrik in Zhenjiang den ARCFOX Alpha T, auch ein reines Elektrofahrzeug. Wir sind für die Elektrifizierung der Branche gut aufgestellt. Das heißt aber nicht, dass Verbrenner von heute auf morgen verschwinden. Es wird synthetische Kraftstoffe geben, Wasserstoff wird für Lkws interessant. Dazu kommen diverse Hybrid-Varianten. Diese verschiedenen Antriebsarten werden in Zukunft auch im Magna-Konzern abgebildet werden.

Verändert das die Kompetenzen der Werke?

Apfalter Nein. In Graz wird an einem Fertigungsstrang ein Verbrenner produziert, dann ein Plug-in-Hybrid, ein Hybrid und dann ein Elektrofahrzeug. Uns ist komplett gleich, was wir an Fahrzeugen bauen.

Was ist der Status quo des Standortes Graz? Das Werk in Marburg wird als Produktverbund mit dem Werk in Graz verstanden. Derzeit gibt es dort keine Produktion.

Apfalter Marburg ist momentan in einem Sleep Mode. Die Stückzahlen sind voriges Jahr zurückgegangen. Aktuell führen wir intensive Verhandlungen mit möglichen Kunden, sowohl traditionellen als auch New Entrance.

Was ist die Perspektive von Graz?

Apfalter Graz wird Graz bleiben, so wie es die letzten hundert Jahre war.

Auch in der Dimension?

Apfalter Ja. Der niedrigste Beschäftigungsstand in Graz war einmal bei 2.500 Leuten. Der Höchstbeschäftigungsstand betrug 13.000 Leute. Jetzt sind wir bei knapp 10.000 Mitarbeitern. Dieses Auf und Ab ist für Graz typisch.

Vor der Pandemie wurden die traditionellen Autobauer als dem Tode geweiht präsentiert. Sie würden den technischen Wandel verschlafen, hieß es. Wurden die Abgesänge auf die europäische Autoindustrie zu früh angestimmt?

Apfalter In allen Prognosen in und vor der Pandemie wurde falsch berücksichtigt, dass individuelle Mobilität durch das Virus deutlich stärker nachgefragt wird. Niemand will mit einem Unbekannten im Zug, Flugzeug oder Auto sitzen. Sie können sich erinnern: Bis zum Beginn der Covid-Krise war das Thema Shared Mobility für viele mit ein Grund, warum der Autoindustrie der Kollaps prophezeit wurde. Es hieß, die junge Generation brauche überhaupt kein Auto mehr. Das Argument ist derzeit vom Tisch.

Wie wird sich die Automobilwirtschaft bis zum Ende dieser Dekade verändern?

Apfalter Elektromobilität wird nicht 100 Prozent der Autowirtschaft beherrschen, aber sie wird ihren prominenten Platz finden, vor allem im urbanen Bereich. Im Langstreckenbereich sehe ich den Vormarsch der Elektromobilität nicht so klar. Da kommt es auf die gesamte Energiebilanz an: Wo kommt der Strom her, wo kommen die nichtfossilen Brennstoffe her, wie wird Wasserstoff erzeugt? Beim Volumen wird sich die Produktion bei 92, 93 Millionen Fahrzeugen weltweit einpendeln. Das entspricht dem Stand vor der Pandemie.

Hat Wasserstoff als Antriebsmedium eine Chance, in absehbarer Zeit marktreif zu werden?

Apfalter Wir sehen Wasserstoff vor allem im Schwerverkehrsbereich. Da arbeiten wir auch daran.

Und wie ist die Wasserstoffperspektive im Individualverkehr?

Apfalter Da haben wir – Stand heute – immer noch ein Kostenproblem.

Letzte Frage ist eine persönliche Frage: Sie sind Jahrgang 1960. Wie lang werden Sie sich die Vollspeed-Tage noch antun?

Apfalter Drei bis fünf Jahre. Und das hängt natürlich auch von meinem Arbeitgeber ab, aber das ist die Vereinbarung, die ich mit Magna derzeit habe.