Interview : "Für Benteler ist die neue Mobilität ein Glücksfall"

Benteler-Chef Ralf Göttel
© Industriemagazin Grafik

Eine geografische Annäherung an den Salzburger Konzernsitz der Benteler AG überrascht wohl nicht wenige Besucher. Die rund 60 Mitarbeiter der Firmenzentrale des global agierenden 7,5 Milliarden Euro Umsatz-Unternehmen residieren ein Stockwerk über einem Hofer-Markt. Motorisierte Besucher dürfen die Parkgarage des Diskonters nützen. Das Unternehmen hat sich in aller Bescheidenheit im nüchternen Umfeld des Salzburger Techno Z eingemietet. Mutter Teresa hätte wohlwollend genickt.

Ralf Göttel empfängt Besucher in einem schlichten Besprechungsraum, wie er für Bürozentren typisch ist: Großer Besprechungstisch, einfache Stühle, Präsentationsutensilien, Blattpflanze, fertig. Der 51-jährige Maschinenbauingenieur ist seit April des Vorjahres Vorstandsvorsitzender von Österreichs (nach Umsatz) siebtgrößtem Unternehmen. 2010 hat Benteler den Sitz vom Stammhaus im deutschen Paderborn in das 700 km entfernte Salzburg verlegt. „Die Idee dahinter ist, dass das strategische Management von den Niederungen der operativen Führung getrennt agieren kann“, sagt Göttel.

Nicht ganz unbedeutend für die Wahl des Standortes dürfte aber die Tatsache gewesen sein, dass Göttels Boss, der öffentlichkeitsscheue Firmenpatriarch Hubertus Benteler, Hälfteeigner der Gruppe und langjähriger Vorstandsvorsitzender, dereinst seinen Hauptwohnsitz auf Schloss Neuhaus im Salzburger Stadtteil Gnigl gefunden hat.

Enorme Führungsstärke, ein tiefes Verständnis für Digitalisierung und Industrie 4.0 und ein starker Hang zu globaler Expansion – so beschreibt der Aufsichtsratschef Benteler den Mann, der uns hier in freundlichem Ton zum ersten Interview für ein österreichisches Medium empfängt.

Herr Göttel, das Herz des Automobilzulieferers Benteler schlägt in Paderborn und das Hirn befindet sich in Salzburg. Wie stark verkompliziert dies Ihren Arbeitstag?

Ralf Göttel Gar nicht. Es war das bewusste Ziel, die strategische Holding vom operativen Tagesgeschäft zu trennen. Wir haben ein Zeichen gesetzt, dass wir nicht Deutschland, China oder Amerika in unserer Unternehmenspolitik bevorzugen. Diese Entscheidung hilft, die nötige taktische Distanz zu unseren operativen Standorten und Aktivitäten zu wahren.

Sie wollten nicht mehr als deutsches Unternehmen wahrgenommen werden?

Göttel Unsere Wurzeln sind in Deutschland. Hier arbeiten wir seit 142 Jahren. Aber heute sind wir ein internationales Unternehmen: Zwei Drittel aller Benteler-Beschäftigten arbeiten außerhalb Deutschlands.

Wie oft bringt Sie Ihre Arbeitswoche nach Salzburg?

Göttel Ich möchte behaupten, dass ich fast die Hälfte meiner Arbeitszeit in Salzburg verbringe. Natürlich bin ich auch viele Tage auf Reisen in China, Brasilien oder sonst wo. Aber der Hauptarbeitsplatz ist in Salzburg.

Die Strecke Paderborn-Salzburg entspricht 700 km oder siebeneinhalb Stunden Autofahrt. Nervt es Sie nicht, so viel Zeit auf der Autobahn zu verbringen?

Göttel Es geht uns in der Holding um den Abstand vom Alltagsgeschäft und um Objektivität im Management. Wenn die Managementspitze mittendrin platziert ist, orientieren sich Mitarbeiter und andere Führungskräfte unausgesprochen an den höchsten Entscheidungsträgern am Standort. Und das entspricht nicht unserem Führungsstil.

Wie weit wurde die Ansiedlung der Benteler-Holding in Salzburg von steuerlichen Überlegungen getragen?

Göttel In keiner Weise. Wenn man sieht, wie schwer nationale Steuerstrategien weltweit vorhersehbar sind, wäre es unklug gewesen, eine solch weitreichende und langfristige Entscheidung auf Steuerüberlegungen zu gründen.

Ehrlich?

Göttel Glauben Sie es.

Im November hat Benteler seinen Hälfteanteil am österreichischen Joint Venture Benteler-SGL verkauft. An den zwei Produktionsstandorten in Ried und Ort im Innkreis haben 220 Mitarbeiter Leichtbau-Autoteile aus Verbundwerkstoffen gefertigt. Ist dieses 2008 gegründete Zukunftsprojekt nicht mehr interessant?

Göttel Leichtbaumaterialien aus verschiedenen Werkstoffen sind die Kernkompetenz von Benteler. Wir haben aber entschieden, die Wertschöpfungstiefe in Teilbereichen zu reduzieren. Unser Fokus liegt auf dem Thema Elektromobilität und auf dem Thema Internationalisierung. Die Partnerschaft und Kooperationen mit SGL bleiben aber bestehen.

Es heißt, Benteler sammle Liquidität für künftige Aktivitäten. Hat der Ausstieg aus dem Benteler-SGL-Joint Venture damit zu tun?

Göttel Wir müssen uns fokussieren. Wir sind in der glücklichen Lage, mehr Marktchancen als Ressourcen vorzufinden. In der Automobilindustrie herrscht derzeit eine derart hohe Dynamik, dass wir entscheiden müssen, bei welchen Themen wir uns engagieren. Was machen wir selber, wo arbeiten wir über Partnerschaften, wo über Lieferantenbeziehungen? Wir werden das Thema Carbon aus der Wertschöpfungstiefe rausnehmen, aber weiterhin mit SGL als strategischer Partner arbeiten, dessen Teile wir an unsere Kunden liefern.

Wie wichtig ist China bei der Internationalisierung von Benteler?

Göttel China ist der größte Einzelmarkt der Welt. Unser Ziel ist es, 30 Prozent unseres Umsatzes mittelfristig in China zu erwirtschaften, 40 Prozent in Europa. Der Rest kommt aus Kontinental-Amerika mit USA, Brasilien und Mexiko. China ist für Entwicklungen der Elektromobilität der zentrale Markt. Dort herrscht für dieses Thema die größte Akzeptanz. Und die Entwicklungsgeschwindigkeit ist enorm: Viele neue, potente Marktteilnehmer rollen derzeit das Feld der Elektromobilität in China neu auf. Wie reden hier nicht von Start-ups, die kurz Geld haben und dann wieder verschwinden. Benteler hat einen wirtschaftlichen und strategischen Fokus auf dem chinesischen Markt. I

China steht unter dem Leidensdruck smoggeschwängerter Millionenstädte. Das Problem des Klimawandels ist aber ein weltweites: Wie wird Mobilität der Industriestaaten in zehn oder fünfzehn Jahren aussehen?

Göttel Der Umbruch im Mobilitätsverhalten kommt. Aber es ist – wie ein Kunde einmal formuliert hat – wie bei einer Ketchup-Flasche, wo man hinten draufklopft. Man weiß, dass es rauskommt, man weiß nur nicht, wann und wie viel. Es wird dabei einen Mix der Antriebsformen geben. Das heißt: Es wird kein Antriebskonzept alles abräumen und es wird der Verbrennungsmotor nicht zur Gänze verschwinden. Aber es kommt zu deutlichen Veränderungen, die je nach Markt und je nach Legislative verschieden ausfallen werden. Benteler ist in der guten Position, dass wir für jede dieser Varianten Lösungen anbieten.

Wie begründen Sie diese Ansage?

Göttel Egal, wie das Fahrzeug der Zukunft angetrieben wird: Es wird immer auf irgendetwas rollen. Dazu entwickeln wir das Fahrwerk modular, damit es auf alle Plattformen passt. Es ist unwesentlich, ob der Kunde einen E-Antrieb, einen Verbrennungsmotor oder einen Hybrid wünscht – wir sind bei unserem Angebot antriebsunabhängig unterwegs. Gleiches gilt für Karosseriekomponenten. Unsere Karosseriestrukturen werden verschieden aussehen, aber sie werden mit gleicher Technologie befüllt. Sie basieren trotz verschiedenen Designs auf derselben Verbindungstechnik, denselben Materialkomponenten und derselben Sicherheitstechnologie. Wir machen Legosteine – und setzen diese immer wieder neu zusammen.

Was bringt das?

Göttel Wir können auf alle Vorgaben des Kunden reagieren. Wir etablieren ein Baukastensystem, das so flexibel ist, dass am Ende – als Summe der Teile – individuelle Lösungen herauskommen. Und die Individuallösung wird dann vor Ort beim Kunden montiert. Dadurch benötige ich keine exakte Vorhersage vom Auftraggeber, wie viel Prozent von diesem Fahrzeug oder jenem Fahrzeug mit welchem Antriebsstrang oder mit welchem Design gebraucht wird. Wir sind dadurch schneller und flexibler.

Funktioniert dies auch unter den Anforderungen der Elektromobilität?

Göttel Dort ganz besonders. Elektromobilität hat die ganze Branche aufgewühlt. Für Benteler ist die neue Mobilität ein Glücksfall. Sie ermöglicht uns, unsere Kompetenzen und Erfahrung nicht nur in neue Märkte, sondern auch an neue Anbieter zu bringen. Es gibt auf einmal Marktteilnehmer, die aus ganz anderen Richtungen kommen. Bislang haben wir es doch immer mit den gleichen Auftraggebern zu tun gehabt. Das verändert sich.

Was verändert dies für Ihr Unternehmen?

Göttel Ein chinesischer Hersteller hat zu mir gesagt: „Ich brauche den Nürburgring nicht.“ Das von ihm geforderte Auto werde nie schneller als 70 fahren und nie den fünften Autobahnring in Peking verlassen. Er brauche ein ganz speziell auf einen reduzierten Anwendungsfall ausgerichtetes Auto. Wir sagen: „Genau das kannst du aus unserem Baukasten haben.“ Wir präsentieren eine Achse, die zwar keine 250 auf der Autobahn erlaubt und bei hoher Geschwindigkeit vielleicht ein weniger tolles Fahrgefühl vermittelt. Aber sie hat für den speziellen Anwendungsfall super Handling-, Betriebs- und Emissionseigenschaften – und ist leistbar. Das ist die Chance der Elektromobilität.

Elektromobilität überlagert sämtliche Mobilitätsdiskussionen. Ist der Hype gerechtfertigt?

Göttel Da muss man auch mal die Zusammenhänge sehen. Der Verbrennungsmotor ist nicht tot. Es gibt 90 Millionen Verbrennungsmotoren und ein paar Tausend Elektroautos. Aber denken Sie an die Ketchup-Flasche: Wir wissen in puncto Stromautos nicht, was und wie viel wann auf die Straße kommt. Aber wir wissen: sie kommen. Darauf werden wir vorbereitet sein. Dennoch werden wir weiterhin traditionelle Produkte und Autokomponenten liefern. Deshalb befinden wir uns – bei allen Veränderungen – in einer Transition und nicht in einer Revolution. Das Top-Thema ist und bleibt bezahlbare Mobilität, angepasst an den jeweiligen Markt.

Sie gelten in der internationalen Zulieferbranche als das Gesicht von Industrie 4.0 und Digitalisierung. Was ist Ihr Verständnis vom Internet der Dinge?

Göttel Bei der Digitalisierung in der Produktion gibt es verschiedene Verständnisebenen. Für den einen sind Automatisierung, abgestimmte Steuerungsverfahren oder das mannlose Flurförderfahrzeug bereits Industrie 4.0. Das halte ich für normale Evolution. Das Spannende passiert, wenn Anlagen untereinander sprechen und verhandeln, welche Auftragsgrößen sie wann fahren. Der Mensch spielt bei diesen Entscheidungen keine Rolle mehr. Digital ist auch, wenn der Auftraggeber ein neues Automodell aufs Band bringt und sich die Rohmaterialdisposition bei Benteler automatisch verändert, ohne dass ein Auftrag von Menschenhand getauscht wurde. Das ist die Stufe, wo Digitalisierung für mich beginnt.

Wie überwindet die Digitalisierung Lieferketten und Eigentümergrenzen?

Göttel Die Digitalisierung hebt das territoriale Denken auf. Das ist ein Thema, mit dem sich die Industrie derzeit noch schwer tut. Es geht um Einflussbereiche und Kontrolle. Wir betreiben mit ausgewählten Kunden in ausgewählten Bereichen Pilotprojekte – gerade beim Thema Logistik. Aber auch da kämpfen wir mit der Frage: Lasse ich die Wartungsintervalle einen Roboterhersteller festlegen? Das sind Aktivitäten, die ich als zahlender Kunde gar nicht mitkriege. Lasse ich den Partner permanent in meine Daten, damit er meine Anlagen nachjustieren kann? Das sind große Themenfelder.

Sie sind der erste CEO der Benteler-Gruppe, der nicht aus der Familie kommt. Verändert das etwas im Unternehmen?

Göttel Natürlich verändert das was. Ich bin zwar nicht firmenfremd, aber ich bin natürlich ein angestellter Mitarbeiter, der danach gemessen wird, was er fürs Unternehmen tut. Ich habe keine Legitimation per Namen.

Wie wirkt sich dies aus?

Göttel Es ist normal und natürlich, Entscheidungen zu rechtfertigen und zu verteidigen. Man hat immer einen Aufsichtsrat. Man hat Gesellschafter. Man hat verschiedene Stakeholder. Kontrolle behindert in keiner Weise, wenn Vorhaben rational begründet und im Sinne des Unternehmens sind.

Eine allgemeine Frage: Das Konzept der EU ist in den letzten zehn Jahren immer stärker unter Beschuss gekommen. Beunruhigt Sie die zunehmende Europafeindlichkeit?

Göttel Es würde Europa gerade in der heutigen Lage guttun, mehr mit einer Stimme zu agieren – gerade wenn es um Themen wie Handelsabkommen geht. Ich wünsche mir, dass die Interessen von Europa auch mit der nötigen Einheit vertreten werden. Es ist unser aller Aufgabe, den Menschen besser zu vermitteln, dass die Idee des vereinten Europas allen mehr Vorteile bringt, als es Nachteile kostet.

Wie erlebt ein deutscher Manager mit Ihrer besonderen Perspektive das österreichische Umfeld?

Göttel Ich kann ja nur aus Business-Sicht sprechen. Für mich ist Österreich, wie Deutschland, Teil von Europa. Und was ich wirklich schätze an Europa, ist die Grundverlässlichkeit von Gesetzen und Steuern. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön es ist, wenn man ein Grundstück kauft, einen Grundbuchauszug bekommt und dann sicher sein kann, dass es einem gehört. In Österreich bin ich nicht gezwungen zu prüfen, ob der Verkäufer wirklich derjenige ist, der das Grundstück auch veräußern darf. Das ist nicht überall so. Also insofern schätze ich Österreich als einen verlässlichen Standort. Die Politik selber ist für uns ein Randthema. Wir sind in Märkten unterwegs, in denen man keinen Lobbyismus braucht. Wir haben keine staatlichen Kunden. Deshalb halten wir uns ganz bewusst aus diesen Themen raus. Im Umkehrschluss erwarten wir nur normale Behandlung. Und wir versuchen, unsere Probleme, soweit es möglich ist, selbst zu lösen.