Nachgelesen : Ewald Hesse elektrisiert die Industrie

Ewald Hesse ist kein Mann der lauten Worte. Fast ein wenig in sich gekehrt sitzt er im Media Lab des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, dem Mekka der Digitalisierung an der Ostküste der USA. Sein zurückgekämmtes Haar, der knapp geschnittene europäische Anzug, die athletische Figur, die tiefe Stimme – Hesse wirkt ganz anders als die Silicon-Valley- Jünger, die sonst hier ihre Visionen darlegen. Er spricht leise, was beim Publikum, ansonsten trainierte Selbstdarsteller gewöhnt, für besondere Aufmerksamkeit sorgt. Was er sagt, hat es trotzdem in sich: „Die Energiemärkte sind voll von künstlichen Barrieren, die von der Digitalisierung gerade niedergerissen werden. Das wird vielen hier im Raum ein, zwei, drei Jahre sehr, sehr weh tun.“ Köpfe drehen sich. Gemurmel. Wer ist der Mann, der den Topmanagern von IBM, Shell, Vattenfall oder Eon gerade ihren eigenen Untergang prophezeit?

Mit Mining-Fabrik Kapital verzehnfacht

Ewald Hesse, 38 Jahre, ist aufgewachsen im deutschen Bielefeld – jener Stadt, um die sich ob ihrer Gesichtslosigkeit in Deutschland Verschwörungswitze ranken. Der passionierte Motorradfahrer studierte Maschinenbau in Konstanz und vermarktete für ABB Kraftwerksleitsysteme in Shanghai. Die erste Herausforderung, für die der Enddreißiger wirklich brennt, bietet ihm der steirische Anlagenbauer Andritz im Jahr 2010: Im Bereich Small Hydro, den dezentralen kleinen Wasserkraftwerken, mit denen die Steirer weltweit reüssieren, wird er Projektleiter. Aus erster Hand lernt er dabei die Schwierigkeiten der Branche kennen: enorm aufwendige Verrechnung, die künstliche Barrieren für Einspeiser darstellen.

Doch Ewald Hesse, der Mann mit den schlechten Nachrichten für die Industrie, ist – wie viele seiner Generation – auch Zocker. In seiner Freizeit betreibt er eher aus Neu- denn aus Geldgier das sogenannte „Mining“: rechenintensive Vorgänge, aus denen mittels Blockchain-Technologie letztlich Bitcoins werden. Fast hätte ihn die Kryptowährung gekriegt: Als seine Mining-Fabrik binnen kurzer Zeit ihr Kapital verzehnfacht, macht ihm ein Freund ein Angebot: Wollen wir das nicht beruflich tun?

Smart Contracts

Wie die Zukunft der Energieversorgung aussieht, davon hat der Andritz-Hydro-Manager eine klare Vorstellung, als er im Sommer 2014 eine ausgedehnte Motorradtour durch die Mongolei unternimmt. Seine Vision: eine Plattform, die den Strom von Energie weltweit so optimiert wie Google Maps jenen des Verkehrs. Eine Plattform, die Transferbarrieren so weit senkt, dass jeder Teilnehmer – vom Megakraftwerk über Small Hydro bis zur Waschmaschine im Haushalt – vernetzt ist. In der einsamen Steppe Zentralasiens kommt ihm die Idee: Hat er nicht erst kürzlich von einem Modell gelesen, das ebendies verspräche?

Eine Anwenderbeschreibung – ein sogenanntes White Paper – dürfte entscheidend zu seinem Erweckungserlebnis beigetragen haben: Die Berliner Hacker Vitalik Buterin und Gavin Wood beschreiben darin die Leistungen, Standards und Techniken einer Datenbanklösung namens Ethereum. Auch das ist eine Blockchain, wie man sie von Bitcoin kennt. Doch Ethereum ist mehr: eine Plattform für flexible Verträge in Form einer Applikation, sogenannte „Smart Contracts“. Während andere in Ethereum eine Lösung für sicheres E-Voting oder Crowdfunding lesen, erkennt Hesse darin etwas anderes: den Befreiungsschlag für den Strommarkt.

Die totale Disruption

Er lädt die beiden bunten Hunde nach Wien – und holt sie an Bord. Der Deal: Hesse bringt den Ethereum-Entwicklern Industriekontakte. Als Berater und Finanziers sollen Unternehmen an der Entwicklung von Standards für die Plattform mitwirken. Ethereum, das Baby der beiden Berliner Programmierer, bleibt kostenlos und wird über eine Non-Profit-Organisation in Zürich firmenrechtlich verankert. Die Idee: Nur wenn die Plattform Open Source bleibt, nutzen die besten Hacker weltweit den Werkzeugkasten Ethereum. Der Andritz-Hydro-Manager Hesse selbst wird auf der zweiten Ebene aktiv: Er gründet das Start-up Grid Singularity und entwickelt Apps für die Energiewirtschaft – ganz nahe an den Erfindern der Plattform und mit einem Vorsprung an Know-how.

Der Plan scheint aufzugehen: Derzeit arbeiten rund 200 Programmierer und rund 100 Start-ups an Apps für diesen Standard. Noch ist man selbst bei Grid Singularity im „Research-Modus“, wie Hesse sagt. Eher auf dem Standard des Commodore C64 als jenem des PC werkt der bunte Haufen von Mitarbeitern von Hesse derzeit. Von Wien, Berlin und der Schweiz aus tüfteln die 26 Mitarbeiter aus der Energiewirtschaft, Wirtschaftsberater und ein Netz von Entwicklern daran, die in naher Zukunft weltweit geltenden Standards für Blockchains zu definieren.

Viele kleine Testprojekte, die die Skalierbarkeit der Anwendung beweisen und Schnittstellen testen sollen, laufen längst: etwa jenes in Wels mit dem Industriepartner Fronius. Dort nutzen die Bewohner eines Mehrparteienhauses den Strom aus der PV-Anlage auf dem Dach gemeinsam – flexibel, transparent und exakt abgerechnet über die Plattform Ethereum. Ein Quantensprung zu der Lösung, die zeitgleich von Siemens im New Yorker Stadtteil Brooklyn getestet wird – und das mit klassischer Blockchain-Technologie weitaus größere Geschwindigkeitsprobleme bei der Datenverarbeitung hat.

Millionen Transaktionen pro Sekunde

Genau dieses Geschwindigkeitsproblem ist derzeit die größte Herausforderung für die neue Technologie – und Hesses neuen Goldstandard: Die komplizierten Blockchain-Algorythmen benötigen so viel Rechnerleistung, dass sich heute nicht mehr als 17 Transaktionen pro Sekunde lösen lassen. Soll zukünftig die Energieversorgung Deutschlands per Blockchain abgewickelt werden, bräuchte man alleine dafür mehrere Millionen Transaktionen pro Sekunde. Zudem ist das System verketteter Datenblöcke zwar (aus heutiger Sicht) unkompromittierbar – also nicht zu knacken. Doch es ist – noch – nicht anonym. Unternehmen, die über die Plattform Energie kaufen, machen damit ihren Energieverbrauch – und damit Auslastungsdaten – auslesbar.

Probleme, die – und davon gehen Experten aus – in den nächsten zwei bis fünf Jahren gelöst werden. So verspricht Hesse, schon nächstes Jahr eine Million Transaktionen pro Sekunde verarbeiten zu wollen. Bis dahin will der Mann mit dem zurückgekämmten Haar, den knapp geschnittenen Anzügen und der athletischen Figur die Standards und Normen der neuen Technologie definiert haben. Die Voraussetzungen sind gut, wie ihm Mitbewerber bescheinigen. Beim Kongress des Bundesverbandes deutscher Energiewirtschaft im Herbst des Vorjahres wurde sein Unternehmen so angekündigt: „Weltweit existieren derzeit 20 Programmierer, die das Konzept einer Blockchain wirklich verstanden haben. Zirka die Hälfte von denen hockt bei Grid Singularity.“

Dieser Artikel wurde bereits im April 2017 veröffentlicht. Nun haben wir ihn für alle Leser freigegeben.

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Herr Hesse, Sie erklären derzeit den Chefs von Unternehmen wie IBM, Shell, Vattenfall oder EDF die Zukunft der Energieversorgung. Was erzählen Sie denen?

Ewald Hesse Dass Blockchain keine Optimierung ist, sondern eine fundamental neuartige Technologie – wie das Internet. Und wie das Internet wird diese Technologie in jeden Geschäftsbereich reingehen: Banken, Verwaltung, Industrieproduktion, Zulieferer. Aber vor allem reden wir bei den Treffen natürlich über den Strommarkt und ich stelle ihnen unser Projekt vor: Ethereum. Eine Plattform, die in Zukunft jedem Anwender weltweit als Open Source zur Verfügung stehen wird – und deren Applikationen wir entwickeln.

Was kann die Plattform?

Hesse Unsere Plattform wird einen direkten Handel zwischen allen Teilnehmern ermöglichen. Komplexe Aufgaben, wie die Bewertung eines ganzen Kraftwerks oder die Stabilisierung eines Stromnetzes, werden mit wenigen Klicks machbar. Unzählige Zugangsbarrieren des heutigen Energiemarktes werden verschwinden. Und riesige Ineffizienzen auch.

Völlig neu ist das nicht: Häuslbauer mit PV-Anlagen speisen ihren Strom schon heute ins Netz.

Hesse Das absolut Neue bei uns ist die Anwendung des Blockchain-Prinzips auf die Energiewirtschaft. Unser Modell versieht jeden einzelnen Knoten mit einer Bepreisung, die jeder Nutzer individuell einstellen kann. Damit entscheidet zum ersten Mal in der Geschichte des Internet jeder Betreiber, mit wem er wie eine bestimmte Art von Daten teilen will – beispielsweise beim Verkauf von Strom, der Leistung seiner Batterie, bei den Vorgängen in seinem Kraftwerk oder im Übertragungsnetz. Ein Beispiel: Die Bewertung eines Kraftwerks mit zehn Megawatt Leistung kostet heute an die 40.000 Euro und dauert seine Zeit. Unsere App erledigt das in Zukunft in Echtzeit – für eine Monatsmiete von 50 Euro.

Was unterscheidet Ihr Modell vom Blockchain-Modell Bitcoin? Das gibt es immerhin seit 2009 ...

Hesse Bitcoin wurde für die Finanzindustrie entwickelt und ist viel zu langsam für die komplexen Kontrakte, die am Energiemarkt gehandelt werden. Mit der Erfindung von Ethereum haben die Jungs eine Büchse der Pandora geöffnet.

Was ist denn drin in der Büchse?

Hesse Ethereum ist wie ein riesiger Werkzeugkasten, wie ein Betriebssystem. Es kann den Stromhandel zwischen Ländern genauso managen wie die Aufladung eines Tesla, während die Ampel rot ist. Damit wird jede Waschmaschine zum Stromhändler.

Was macht Sie so sicher, dass die Energiewirtschaft Ihnen folgen wird?

Hesse Das Feedback der Industrie. Wir haben im Februar in Wien unsere Non-Profit-Organisation Energy Web Foundation gegründet, bei der sind 60 der größten Energiekonzerne von Shell, Eon, RWE, Vattenfall bis zu EDF an Bord. Wir können überhaupt nicht mehr alle Anfragen bearbeiten.

Womit verdienen Sie denn in Zukunft Geld?

Hesse Wir sind auf zwei Ebenen aktiv. Erstens bauen wir eine Plattform, die in Zukunft die Blockchain-Standards weltweit definieren soll. Die Industriekonzerne wirken als Berater und finanzieren die Entwicklung. Aber die eigentliche Arbeit machen wir. Unsere Vorstellung ist, dass diese Plattform in Zukunft kostenlos für alle verfügbar sein soll. Das ist also nur ein einmaliger Auftrag. Natürlich verfügen wir damit über einen Vorsprung an Know-how. Den nutzen wir auf der zweiten Ebene: der Entwicklung von Apps für die Energiewirtschaft, und die kann man mieten. Das wird unser eigentliches Geschäftsmodell, und da werden wir im Wettbewerb mit unzähligen anderen bestehen müssen.

Sie sind Maschinenbauer. Wie kamen Sie dazu, so tief in die digitale Welt einzutauchen?

Hesse Ich war zuletzt bei Andritz in der Entwicklung neuer Projekte tätig. Das war echt ein genialer Job. Andritz ist bei fast jedem dritten Wasserkraftwerk weltweit beteiligt. Das heißt: Man kennt hunderte Märkte und tausende Probleme des Energiemarktes aus erster Hand. Das Thema Bitcoin und Blockchain hat mich eigentlich immer schon – eher persönlich – interessiert.

Ethereum, die Basis für Ihre Standards, wurde eigentlich von Vitalik Buterin entwickelt, einem aus Russland stammenden Softwarespezialisten. Wie sind Sie auf ihn und seine Ideen gestoßen?

Hesse Ich bin 2014 auf ihn aufmerksam geworden, als er in einem White Paper seine Idee von Ethereum vorgestellt hat. Damals war das noch nicht viel mehr als ein Konzept und Vitalik, heute ein echter Star dieser Szene, weitgehend unbekannt. Bei einer Motorradtour durch die Mongolei kam mir dann die Idee: Was da vorliegt, ist die Antwort auf all die Probleme des Energiemarktes. Also habe ich ihn nach Wien eingeladen – und wir haben einen Deal gemacht.

Wo stehen Sie derzeit in der Entwicklung?

Hesse Wir sind ein bunter Haufen Leute, eine interdisziplinäre Firma, es geht gerade von null auf 150 – weil die Erwartungen so völlig überhitzt sind und weil noch so viel zu tun ist. 2015 startete Ethereum, knapp danach 2016 wir mit Grid Singularity. Hinter Ethereum selbst steht eine Züricher Non-Profit-Organisation. Und auch wir sind noch alle völlig im Research-Modus. Der Stand ist wie beim Commodore 64 auf dem Weg zum Internet von heute.

Die Nachteile der Blockchain-Technologie sind offensichtlich: Noch mangelt es an Rechnerleistung und die Technologie ist zwar unkompromittierbar, aber die Teilnehmer dadurch alles andere als anonym.

Hesse Wir stehen vor großen Herausforderungen. Die enorme Rechnerkapazität ist eine davon. Daran arbeiten wir gerade intensiv. Wir gehen davon aus, dass wir schon im kommenden Jahr sehr viel größere Kapazitäten erreichen. Die zweite Schwierigkeit ist, dass das System pseudonym – nicht anonym – ist. Wir wollen Privatheit im System, das müssen wir lösen. Bis es so weit ist, dauert es noch zwei oder auch fünf Jahre. Genauer kann das Ihnen niemand sagen, weil das alles ein riesiges Experiment ist, das es noch nie gab.

Ihr System ist eigentlich ein Frontalangriff auf Energieversorger. Deren lukratives Geschäftsmodell als Vermittler zwischen Produzent und Verbraucher wird verschwinden.

Hesse Wir greifen Energieversorger nicht an, das sind nicht unsere Feinde. Sie werden auch überhaupt nicht verschwinden, wie das manche Medien heute schreiben. Derzeit ist das Geschäftsmodell der Versorger: billig produzieren und teuer verkaufen. Bei Trading in Echtzeit und Clearing in Echtzeit geht der Preis des Gutes „Energie“ natürlich gegen null. Aber: Es geht in Zukunft natürlich weiterhin um Verfügbarkeit und Versorgungssicherheit. Diese wird – gute Nachricht für Versorger, schlechte für Kunden – natürlich kosten.

Wie sehen Energieversorger der Zukunft aus?

Hesse Ihr Geschäftsmodell wird einfach viel effizienter. Einige wandeln sich gerade – manche schneller als andere. Ich wage eine Prognose: Die Energiefirmen, die in 20 Jahren noch am Markt sein werden, werden alle IT-Firmen sein.

Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn man mit der eigenen Erfindung im Begriff ist, eine ganze Branche umzukrempeln?

Hesse Das ist keine Sache von Befindlichkeit. Tatsache ist, dass heute 40 Prozent aller Vorgänge am Energiemarkt keinen Sinn machen, weil sie angesichts der Möglichkeiten der Digitalisierung nicht effizient und nicht resilient genug sind.

Abschlussfrage: Täuscht der Eindruck, dass beim Thema Blockchain und Energie Europa einen klaren Vorsprung vor dem Silicon Valley hat?

Hesse Nein, der täuscht nicht. Das Silicon Valley hängt uns um Jahre hinterher. Ethereum ist ein absolut europäisches Baby. Die Leute aus dem Silicon Valley pilgern heute nach Berlin, um die Programmierer der Blockchains kennenzulernen.

Sie pilgern allerdings nicht nach Wien – dem Unternehmenssitz von Grid Singularity ...

Hesse Das stimmt, leider. Um ehrlich zu sein: Der Standort ist für unsere Arbeit sicher suboptimal. Unsere Wertschöpfung passiert in den Köpfen und in den Fingern auf der Tastatur. Und hier in Wien gibt es nur wenige gute Programmierer, und die, die es gibt, sind meist schon in andere Projekte verstrickt. Die Musik im Bereich Ethereum spielt in Berlin.