Serie Lieferkette optimieren : Einkauf: Der Balanceakt

„Früher waren die Vertriebsmitarbeiter die Stars. Und die Luschen hat man in den Einkauf gesteckt.“ Eine harte Polemik, doch Ulrich Weigel darf sie sich wohl leisten. Der Bereichsleiter Einkauf der deutschen Leica AG ist seit Jahren in der Beschaffung tätig, bildet Nachwuchs aus und veröffentlicht Bücher zum Thema. Die Zeit der „Luschen“, sagt Weigel, ist nun vorbei. Der „weit verbreiteten Seuche“, Lieferantenbeziehungen nur von der Entwicklung ausgehen zu lassen, müsse man hart entgegentreten. Strategische Einkäufer, sagt Ulrich Weigel, erfüllen heute Führungsaufgaben: „Sie müssen toughe Manager sein und über Tugenden verfügen, die man früher eher den Verkäufern zugeordnet hat.“

„Strategischer Einkauf“ – das klingt so gar nicht nach den Langweilern, die Bestellungen ausfüllen. Seit einigen Jahren drängt eine neue Generation von Einkaufsleitern auf den Markt, selbstbewusst und fordernd. Und sie bestimmen immer häufiger die Beziehungen zu den Lieferanten.

Finanzkrise, Nordafrika, Fukushima

René Lind, Einkaufsleiter Elektrik/Elektronik bei Magna Steyr, kennt viele Risiken für die Supply Chain – Insolvenzrisiken in der Lieferantenbasis, speziell während der Finanzkrise, Naturkatastrophen wie Fukushima, aber auch politische Unruhen in Ländern wie Tunesien, Korea oder derzeit in der Ukraine. „Jedes dieser Ereignisse muss individuell behandelt werden, verlangt aber zur effizienten Abarbeitung gewisse Standards und Prozeduren, auf die jederzeit zugegriffen werden kann.“

Magna bündelt die Informationsstände der einzelnen Produktgruppen über ein zentrales Risk-Management-Team. So ist es zum Beispiel möglich, tagesaktuell relevante Informationen über die Supply-Chain-Situation in der Ukraine zu kommunizieren – für alle Magna-Gruppen und zentralisiert durch eine Person, vertraut mit den dortigen Geschehnissen. „Dass diese Transparenz über die gesamte Lieferkette nicht per Knopfdruck gegeben ist, haben die Ereignisse der Vergangenheit bestätigt.“

„Wir wollen die Strategie des Lieferanten sehen“

Die Prozesse wurden also komplexer, und die Beschaffung wird immer frühzeitiger eingebunden, beginnend bei der Suche nach neuen Lieferanten. Bei der Leica AG etwa gibt es zwar die Möglichkeit der Bewerbung über die Homepage, doch die Einkäufer schwärmen auch permanent zu den wichtigsten Messen der Welt aus. „Wir gehen dabei auch den – eher ungewöhnlichen – Weg über die Maschinenhersteller“, erzählt Ulrich Weigel. „Die nennen uns Kunden, die das herstellen, was wir benötigen. Dann suchen wir zunächst den Kostentreiber, und der führt uns letztlich auf die richtige Spur.“ Es ist eine Grundregel im Unternehmen, jeden Kandidaten auch vor Ort aufzusuchen – dank intensiver Recherche im Vorfeld seien echte Überraschungen dabei allerdings eher selten.

Wie eng der Einkauf von Beginn an am Lieferanten agiert, bestätigt Christian Köckinger, Beschaffungsleiter der ATB in Spielberg. Das sei auch nötig, denn die Guten herauszufiltern, werde immer schwieriger. „Bei strategisch wichtigen Lieferanten wollen wir die Unternehmensstrategie genau sehen, und wir geben manchmal auch selbst Empfehlungen und Prognosen dazu ab.“ Dass die hergebrachte, klassische Kunden-Lieferanten-Beziehung so etwas nicht zuließ, ist klar. Die Anforderungen an beide Seiten sind also dramatisch gestiegen. „Die Lieferanten“, erzählt Köckinger, „gehen mit diesem veränderten Verhältnis durchaus unterschiedlich um, aber manche fordern die Einflussnahme durch den Einkauf sogar aktiv ein. Wir mussten allerdings auch lernen, dass manchmal Zugeständnisse notwendig sind, wenn der Lieferant ein Problem hat.“

Kontrolle ohne Übergriffe

Hilfe anzufordern – dazu gehört eine Menge Vertrauen. Das aufzubauen, ist nicht die geringste Aufgabe der strategischen Beschaffer. „Gerade in der Automobil- und Zulieferindustrie hat man verstanden, dass man Lieferanten nicht nur treten kann, sondern dass es auch Zeiten gibt, in denen sie Hilfe benötigen“, betont Christian Köckinger. „Natürlich sollen die Lieferanten möglichst günstig produzieren – aber sie müssen das aus eigener Kraft können.“

Dass der permanente Paarlauf dem Lieferanten nützliches Feedback gibt, ändert nichts an der Tatsache, dass es um Kontrolle geht. Bei ATB geschieht die Bewertung der Leistungsfähigkeit der Lieferanten ebenso hochfrequent wie möglichst objektiv und standardisiert, erzählt Köckinger. „Derzeit denken wir allerdings darüber nach, inwiefern wir auch subjektive Kriterien in die Bewertung einfließen lassen können, also die Qualität der Beziehung. Das ist aber natürlich eine Frage des Aufwandes. Eine Lösung haben wir dafür noch nicht gefunden.“

Die Grundlage dafür, dass Kontrolle nicht als Übergriff empfunden wird, ist möglichst weitgehende Transparenz. Bei Leica etwa werden die Lieferantenbewertungen durch den Einkauf halbjährlich durchgeführt. Der Fokus liegt dabei auf den Hauptumsatzträgern und den Low-Performern, erzählt Ulrich Weigel. Die Ergebnisse bleiben keineswegs im Unternehmen – sie ergehen umgehend an die Geschäftsführer der Lieferanten, inklusive der kompletten Historie. Im Falle sinkender Performance erarbeiten Weigel und Kollegen gemeinsam mit den Betroffenen Entwicklungsvereinbarungen und auch konkrete Pönalen. „Das offene und klare Wort dominiert mit der klaren Androhung von Konsequenzen, die entweder weniger oder gar keinen Umsatz mehr bedeuten.“

Offene Strukturen

Wie transparent es zugehen kann, zeigt auch das Beispiel CMS Electronics. Der Kärntner Komplettanbieter für Elektronik-Fertigungsdienstleistungen, der 70 bis 80 Prozent seines Geschäfts im Automotive-Bereich macht, teilt seine Lieferanten anhand einer Pyramide in vier Ebenen ein. Über ein Bewerbungsverfahren können sich Unternehmen als „gelistete Lieferanten“ qualifizieren und sich über normierte Auswahl- und Qualifizierungsverfahren zur obersten Stufe hocharbeiten. Der Status des jeweiligen Partners ist nicht nur den Mitarbeitern der Beschaffungsabteilung zugänglich: Jeder Lieferant kann die Struktur einsehen, inklusive der Lieferantenpräsentationen – auf welcher Stufe er sich im Moment befindet. „Diese extrem offene Struktur führt natürlich zu einem gewissen Wettbewerb unter den Lieferanten“, erklärt Beschaffungschef Markus Quendler den erwünschten Effekt.

Entwicklung? Nicht ohne uns!

Auf einen interessanten Effekt weist Ulrich Weigel hin: Je früher und intensiver ein Unternehmen das Entwickeln der Lieferanten ansetzt, desto eher schafft es auch Monopolisten, die über die Lifetime des Produkts nur schwer zu ersetzen sind. „Um das zu managen, muss ich fast schon wieder Verkäufermethoden anwenden, bis hin zu Fragen wie: Was hat er für Hobbys?“, so Weigel. „Das ist vor allem bei Single Source eine zentrale Herausforderung, gerade hier muss ich permanent ganz nahe am Lieferanten und sehr gut über ihn informiert sein.“

Diese Nähe geht so weit, dass sich Lieferanten sogar an früher gänzlich Undenkbares gewöhnen mussten: Die strategischen Einkäufer beginnen sogar bei der technischen Innovation mitzureden. René Lind von Magna Steyr repräsentiert dieses neue Selbstbewusstsein, wenn er meint: „Der Einkauf ist mittlerweile sehr früh in die Konzeptentwicklung involviert – beginnend von Technologiefindung bis hin zu Price-Target-Setting.“ Vorbei also auch hier die Zeiten, als Entwickler und Lieferant gemeinsam an Innovationen feilten und den Einkauf vor vollendete Tatsachen stellten: „Das bedeutet auch ein Umdenken bei unseren Lieferanten“, sagt René Lind. „Das technische und kommerzielle Benchmarking setzt heute schon in der Konzeptphase ein.“

Interne Anwälte

Die neue Rolle, in der sich die Beschaffer sehen – Ulrich Weigel bezeichnet sie als „die internen Anwälte des Lieferanten“ –, fordert nicht nur Letztere, sondern auch das eigene Unternehmen. „Ich glaube nicht, dass alle Geschäftsführer schon verstanden haben, wie massiv sich das Profil eines strategischen Beschaffers gewandelt hat“, räumt Weigel ein. Andererseits erlebe er im Zuge der Fortbildungen, die er anbietet, immer mehr Junge, „die erkannt haben, wie unglaublich interessant dieser Beruf ist“.