Virtual Reality : Digitales Modell statt Attrappe aus Pappe

Virtual Reality
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Vor fast 10 Jahren besuchte ich als Journalist eines deutschen Logistikfachmagazins das BMW-Werk im niederbayrischen Dingolfing. Der Autobauer hatte damals zu einem Presserundgang geladen: Eine neue Fertigungsstraße wurde eingeweiht, altersgerecht mit mitschwingenden Parkettböden – ein Vorzeigeprojekt gemeinsam mit der Technischen Universität München. Bessere Ergonomie und die Parkettböden sollten die Knochen der Werker entlasten und auch ältere Kolleginnen und Kollegen fit halten – Turnstange inklusive. Am Rande der neuen Fertigungsstraße stapelten sich noch zahlreiche Pappkartons, zerschnitten, bemalt, beklebt und zusammengetackert.

Die BMW-Prozessmanager hatten gemeinsam mit den Werkern die zukünftigen Arbeitsbereiche am Band mit Pappkartons nachgebaut und die Arbeitsabläufe simuliert, Kartons hin und her verschoben, bis es für die Kolleginnen und Kollegen passte und auch die Wissenschaftler ihr Okay gaben. Dann kam erst der Stahl. Wie gesagt: Das war vor zehn Jahren.

Porsche als Kunde

Über Pappkartons will Albert Groz von TruPhysics aus Stuttgart am liebsten gar nicht mehr nachdenken. Er lacht, wenn er die Anekdote aus Niederbayern hört. „Wir machen eine Lösung, die umfasst Pappkartons, Rapid Prototyping und Whiteboards – und das in Virtual Reality“, erklärt der Gründer und grinst. VR-Engineering ist für den Schwaben und sein Team die Zukunft. Das Unternehmen TruPhysics wurde 2014 aus dem Institut für Automatisierung und Softwaretechnik der Universität Stuttgart heraus gegründet. Heute arbeitet Albert Groz mit sieben Kollegen an der Simulation für die Prozesse der Zukunft – in VR.

Schon wieder das Hype-Thema VR? Viele können es kaum mehr lesen und hören. Ja, aber VR-Engineering geht noch einen Schritt weiter als viele VR-Studio-Anbieter und Designer, versichert Groz dem Interviewer. „Dort, bei den Studios der anderen, bestellen Sie sich einfach nur fertige Szenen, bei uns bauen sich die Werker oder Prozessplaner die Fabrikumgebung selber“, erklärt er selbstbewusst und das kann er auch sein. Zu den Kunden von TruPhysics zählen laut Website Porsche, Daimler, der Messtechnikspezialist Faro, die Chirurgie-Sparte Aesculap von B. Braun Melsungen und der Greifspezialist Schunk aus Lauffen am Neckar.

Ein Werkzeug für die Fabrikplanung

Zielgruppe: Anlagenbauer und die Automobilhersteller, die in der Vergangenheit eben mit Pappe hantierten, malten, klebten und umstellten. „Wir haben den Bedarf erkannt, ein Werkzeug für Berater oder Industrieanwender zu entwickeln, damit Fabrik- und Prozessplanung und die Simulation von Materialfluss schnell, präzise und erlebbar ist”, preist Groz sein Produkt an. Und tatsächlich funktioniert es im Test: Schnell sind erste Förderbänder, Kisten und Roboter positioniert – alles in 3D, in der virtuellen Realität, ohne Programmierkenntnisse realisiert. Dann wird physikbasiert simuliert. Der Clou: Groz und sein Team haben 3D-Modelle von Kuka-Robotern und Universal Robots in der Datenbank. Aber: „Wir haben nicht nur 3D-Modelle, wir haben Kinematik-Beschreibungen, die Erreichbarkeitsstudien im 3D-Raum ermöglichen“, erklärt Groz sein Alleinstellungsmerkmal am VR-Simulations-Markt. Neben Kuka und Universal Robot verfügt die Software auch über Modelle gängiger Greifer von Schunk und Lasersensoren.

HTC Vive als Standardwerkzeug

Doch zurück zu den Robotern: Der Anwender kann in der VR-Anwendung sogar die Roboter programmieren und die Bahnen in die echten Steuerungen exportieren oder Taktzeiten abschätzen. „Unsere Lösung ist kein Design-Studio, sondern ein Proof of Concept“, fasst Groz zusammen. Und das ist wichtig für den Anlagenbau: Das Management beim Kunden könne sich über die VR-Anwendung leichter die Veränderungen vorstellen und die Prozesse miterleben, Anlagen greifbar machen, wirbt Groz.

Und die Hardware? Die Akzeptanz der VR-Brillen ist noch nicht gerade groß. Groz setzt auf die Zeit und HTC Vive. Er ist sich sicher: „In der Zukunft wird jeder zweite Maschinenbauer eine VR-Brille im Einsatz haben. Sie wird zu einem Standardwerkzeug in den Unternehmen.“ Und die Entwicklung bei den Brillen geht schnell. Nächstes Jahr soll schon eine HTC-Brille mit 4K-Auflösung auf den Markt kommen.

Vor zehn Jahren fotografierte ich die Pappkartons mit einer Spiegelreflexkamera. Das Interview mit Albert Groz wurde als erstes als Livestream auf Facebook via iPhone übertragen – in HD. Und vielleicht ist VR doch noch nicht das Ende der Pappe, denn immerhin wird die günstige Google Cardboard-Brille aus Pappe produziert. Fest steht: Die Entwicklungen aus der Consumer-Elektronik verändern auch die Fabrikwelt und das B2B-Geschäft und schaffen neue Produkte. Groz und seine Kollegen haben die Chance genutzt.