Industrie 4.0 : Die Reifeprüfung

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Oliver Lödls Pointe zündet. Eisen-Designer – das ist die Bezeichnung, die er für seine Mannschaft immer noch gern scherzhaft wählt – und da hat er im Kern natürlich recht: Ein Wälzlager ist ein vergleichsweise einfaches Maschinenbauelement. Zugleich kann der Österreich-Chef des deutschen Lagerherstellers Schaeffler ziemlich präzise nachzeichnen, wie die Anforderungen an Industrielager (und deren Entwickler) zuletzt stiegen: Der Käfig des Lagers müsse nun etwa "Strom erzeugen oder einen elektronischen Bauteil aufnehmen können", erklärt Lödl. Einfach ist anders, "unsere Entwickler müssen jetzt auf einmal mechatronische Komponenten mitbedenken", sagt er. Freilich: Dass die deutsche Mutter Produktinnovation treibt, schadet den Berndorfern nicht – ebensowenig wie allen anderen Unternehmenstöchtern mit ebenso fleißigen Konzernmüttern. Dass die intelligente Fabrik und vollvernetzte Lösungen nicht mehr aus den Köpfen zu bringen sind, ebensowenig. "Man wird jetzt nicht mehr schief angeschaut, wenn man eine ungewöhnliche Idee hat und diese dann auch artikuliert", meint ein Fertigungsprofi.

Ego-Trip?

An ungewöhnlichen Ideen, die aus der Fabrik intelligenten Fertigungsmittelpunkt und Ausbildungsort zugleich machen sollen, mangelt es beileibe nicht. Produkte werden intelligenter, sind besser vernetzt – neue Geschäftsmodelle lösen jahrzehntealte ab. Millionenschwere Fördergelder wurden umgelenkt und die Industrie ist wieder in aller Munde: "Lange als wenig innovativ und sogar ein bisschen langweilig abgestempelt, ist die 'positive Markenbildung' in vollem Gang", beobachtet Kurt Hofstädter, Leiter der Division Digitale Fabrik bei Siemens CEE. "Das Thema ist bei uns Chefsache, der Vorstand treibt es persönlich voran", heißt es etwa beim Stahlerzeuger Voestalpine. Die Linzer vernetzen bereits täglich tausende Prozess- und Qualitätsparameter mit Materialeinheiten – neue vernetzte Technologien würden zusätzliche Lösungsansätze ergeben, die "in der Vergangenheit undenkbar waren", sagt Franz Michael Androsch, Leiter der Voest-Konzernforschung. Für Unternehmen könnte es also nicht besser laufen – vor allem für die großen. "Die deutschen Mütter heimischer Ableger haben das Thema Vollvernetzung extrem getriggert", beobachtet ein Fertigungsexperte. Aber stecken hinter den vollmundigen Bekundigungen auch belastbare Konzepte? "Aufgrund ihrer sehr ausgeprägten Marktstellung herrscht bei manchen Großbetrieben ein nicht ungefährliches Selbstbewusstsein vor, natürlich auch beim Thema intelligente Fabrik von vornherein der Beste zu sein", meint ein Produktionsprofi. Gift für jedwede konstruktive Arbeit in den Industrie 4.0-Arbeitsgruppen. Doch nicht alle erliegen dem Hang zur Übersteigerung. Viele nähern sich dem Thema mit ernsthaftem Gestaltungswillen – und zurückgestelltem Ego.

Effizienzhöhen

Es klingt ein wenig so, als wollten die Deutschen die Gesetze der Physik aushebeln. In Wahrheit reizen sie diese nur aus. Und zwar nach allen Regeln der Kunst. In Sekundenschnelle, also quasi in Echtzeit, will der Halbleiterkonzern Infineon künftig einzelne Prozesse seiner Front-End-Produktionen in Europa, Amerika und Asien gleichzeitig optimieren – auf Basis von Testdaten, die nur Sekundenbruchteile vorher am jeweiligen Teststandort, etwa in Singapur, ermittelt wurden. Pilotanwendungen zeigen bereits, dass der Hebel durch den Echtzeit-Abgleich von Testdaten kein kleiner ist. Ein Husarenstück der Fertigungstechnik also? Oder doch das der Industrie 4.0? Wie man es letztlich benennt, ist für Thomas Reisinger, Vorstand Operations am Villacher Infineon-Standort, nebensächlich. Dagegen wichtig: Neue Wege zu finden, "um mit den Komplexitäten, die sich in einem Unternehmen mit sechstausend unterschiedlichen Produkten zwangsläufig ergeben, noch besser umzugehen", sagt Reisinger. Sei es in der Lieferkette mit Kunden und Partnern, der F&E – oder eben in der Produktion. So fand man heraus, dass "in den Produktionsprozess integrierte Messungen und daraufhin eingeleitete Nachsteuerung die Prozessstreuung um bis zu 20 Prozent verringern", gibt Reisinger ein Beispiel. In Österreich wird Infineon im Pilotraum Industrie 4.0 ("ein Projekt, das wir ernst nehmen") deshalb stark Optimierungsthemen treiben. Im August wurde dafür eigens ein erfahrener Mann – der bisherige Leiter der Fertigungssteuerung – abgestellt. Das alles passiert nicht ausschließlich hinter dicken Türen – dafür sei Industrie 4.0 eine zu "schöne Spielwiese". Ob Stiftungsprofessur oder Industrie 4.0-Verein: "Wir sind fast überall dabei", sagt Reisinger.

Durchgängigkeit

Hocheffizient ist sie, die Weizenstärkeanlage des Nahrungsmittelherstellers Agrana in Pischelsdorf. Die Prozesse: durchgängig. Die Daten: automatisch generiert. Der Kunde: per Knopfdruck eingebunden. Josef Eisenschenk, der hiesige Standortleiter, wüsste nicht, was besser umgesetzt hätte werden können. Das Siemens-Prozessleitsystem spielt alle Stückln – "wir haben sehr schnell in einen hohen Produktivitätsmodus gefunden", sagt Eisenschenk. Schon nach einem halben Jahr hat die Produktqualität gepasst – auch mengenmäßig stand man dort, wo man sein wollte. Anfang 2014 ging es deshalb schon ans Optimieren – so gelang es mit der Regelparametrierung, den Energieverbrauch zu drücken. Aber stehen die Niederösterreicher mit ihrer Anlage auch auf der sicheren Seite, wenn es um die Vollvernetzung – mithin also die Klassiker wie vorausschauendes Produzieren (und Instandhalten) – geht? Oder wird es bei dem Thema ganz schnell still in Pischelsdorf? Mitnichten. Auf die Zukunft, all das, was kommen mag, haben die Niederösterreicher nicht vergessen. Mit intelligenten, modellbasierten und vorausschauenden Regelsystemen trachtet der Standort und allen voran Eisenschenk einerseits danach, noch mehr Energieeffizienz zu erzielen. Anderseits will man – ein alter Erzeugerwunsch – die Rohstoffausbeute weiter hinaufschrauben. Dass das System die technischen Möglichkeiten bietet, steht außer Frage, heißt es bei Agrana. Dass die Niederösterreicher den richtigen Zeitpunkt fürs Hochrüsten treffen, wohl auch.