Produktionsplanung : Die Mehrwert-Schöpfer

Hannes Hunschofsky
© Helene Waldner

Beinah legten die Wiener eine Punktlandung hin. Und angesichts der üppigen Ausgaben für Industrierohstoffe war die Freude darüber doppelt groß: Rund 150.000 Tonnen – zu einem großen Teil Magnesia-Rohstoffe – verarbeitete der Feuerfestkonzern RHI im vorigen März weltweit in seinen 33 Produktionswerken. Frühzeitig abzuschätzen, wie hoch die Bedarfe in der Herstellung der Feuerfestprodukte ausfallen, darin liegt in Zeiten, in denen die Rohstoffmärkte verrückt spielen, die Kunst für die Wiener. Seit der Einführung einer zentralen Nachfrageplanung beherrscht der Industriekonzern die Gesetze der Prognose nun noch besser: Nur um zwei Prozent, also haarscharf, schrammte der RHI-Forecast im März am tatsächlichen Rohstoffeinsatz vorbei.

Ziemlich genau jene Rohstoffe und Halbfertigerzeugnisse waren demnach in sämtlichen Produktionen des Konzerns kurzfristig verfügbar, die es auch sein sollten. Ein bemerkenswert gutes Ergebnis, seit der Einführung des Tools eins der besten, das die Wiener da hinlegten – und nicht nur Statistiker freut. Die punktgenaue Planung des Rohstoffeinsatzes macht im Konzern natürlich auch einen schlanken Fuß, bestätigt Bernhard Goliasch, Leiter der Rohstoffversorgung der RHI: „Letztlich verbessert sich so das Netto-Umlaufvermögen und das Working Capital“, weiß er.

„Kollektive Fehlgriffe“

Denn weder gab es nennenswerte Engpässe in der Versorgungskette – etwa für Magnesia-Karbon-Feuerfeststeine –, die auch nur eine einzige RHI-Produktion zu kurzfristigen Prozess- oder Kapazitätsanpassungen gezwungen hätte. Noch musste das Unternehmen kurzfristig – also in der Regel teuer – auf den Rohstoffspotmärkten zukaufen. „Die Märkte schwanken teuflisch“, weiß auch Franz Staberhofer, Leiter Logistikum an der FH Steyr und Obmann des Vereins Netzwerk Logistik (VNL), nur zu gut, was Betriebe, die weniger gut beim Verplanen der nächsten Monate sind, derzeit beim Rohstoffeinkauf erwartet. Beispiele wie jenes der RHI würden bestätigen, was er als alter Profi wissenschaftlich jederzeit nachweisen kann: Supply Chain Management, zu deutsch Lieferkettenmanagement, sei derzeit das einzige „adäquate Mittel“, mit dem Marktschwankungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Liefertreue zu trotzen sei.

Vorausgesetzt freilich, das Strategiekonzentrat sei dem jeweiligen Unternehmen angepasst. Und der „kollektive Fehlgriff“ (Staberhofer), nicht ganzheitlich zu denken, werde vermieden. Die gute Nachricht für seine in dem Punkt doch mitunter geschundene Seele: Immer mehr Betriebe erhöhen jetzt die Reaktionsfähigkeit in ihren Lieferketten – bei gleichzeitiger Erhöhung des Servicelevels. Die Strategien von Unternehmen wie RHI, Wild, Plansee oder Hoerbiger, die in der Lieferkette längst ihr ganz eigenes Erfolgsrezept gefunden haben.

Fachliteratur, persönliches Interesse – und ein unbändiger Wille, mit den vertraglich zugesicherten, immer kürzer werdenden Lieferzeiten in den Produktionswerken Schritt zu halten: Hannes Hunschofsky, Chef der globalen Produktionsdivision von Hoerbiger Kompressortechnik, ist immer für visionäre Konzepte in der Supply Chain gut. Eine der bis dato erfolgreichsten Maßnahmen des auf Kompressortechnik spezialisierten Maschinenbauers: Mittels streng auf basismakroökonomischen Daten basierendem Indikatorensystem trieb Hoerbiger die Planungsgenauigkeit die letzten vier Jahre in die Höhe.

Hunschofsky kann hier beeindruckende Zahlen vorlegen: Lag die Nettoabweichung zwischen Prognose und Ergebnis von 2004 bis 2008 bei 17 Prozent, waren es seit der Einführung des Makromodells nur mehr erstaunliche 3,7 Prozent. Eine betriebliche Nabelschau mit erheblichem Methodeneinsatz, die Franz Staberhofer vom Logistikum der FH Steyr ziemlich „bemerkenswert“ findet. Zumal Hoerbiger nachlegt. Denn nun habe der Konzern einen unverstellten Blick auf eine „Mittelkurve“, die offenlegt, wo weitere Arbeit auf den Maschinenbauer wartet: „Die kurzfristigen Abweichungen treten nun in den Vordergrund“, erklärt Hunschofsky.

Geglättete Kurve

Und das ist keine leere Floskel. So förderte das Analysemodell unter anderem offen zutage, dass nicht jeder Kunde so brav bestellt, „dass wir automatisch eine schön geglättete Auslastungskurve herausbekommen“, sagt Hunschofsky augenzwinkernd. Und meint Folgendes: Je kurzfristiger der Kunde bestellen kann, umso schwieriger wird es für das Unternehmen klarerweise, die Auslastung zu glätten. Deshalb hat Hannes Hunschofsky schon das nächste konzernweite Projekt auf die Beine gestellt. Nun gehe es darum, Algorithmen, numerisch erfassbare Größen oder zumindest einen modularen Baukasten an Maßnahmen zu definieren, „um auf die wöchentlichen Auslastungsschwankungen von fünf, zehn oder mehr Prozent zu reagieren“, sagt der Hoerbiger-Mann.

Heute würden viele Entscheidungen noch aus dem Bauch heraus gefällt. Wenn man Mitarbeitern heute kommuniziere, sie für Überstunden am Samstag zu brauchen, gehe man dabei in der Regel „noch nicht sonderlich wissenschaftlich vor“, sagt Hunschofsky. Sein Ziel: Das Thema Flexibilisierung fortan in ein mathematisches Modell zu gießen, in dem die bestbeeinflussbaren Variablen abgebildet seien. Maßnahmen könnten sein: Banale Dinge wie Zeitkonten. Oder schon schwieriger: „Das Verschieben von Kapazitäten im globalen Netzwerk über zwölf Werke“, sagt Hunschofsky.

Eine Beschleunigung der Prozesse – und folglich in der Auftragsabwicklung – erzielt der Hersteller von leistungsbestimmenden Bauteilen für Kompressoren, Turbomaschinen und Motoren freilich heute schon über penibel ausgearbeitete Vereinbarungen mit Großkunden. Das geht bis hin zur völligen Verschränkung der Lieferketten, heißt es bei Hoerbiger. Immer mehr Kunden würden in Echtzeit „mit unserem SAP zusammengeschaltet“, berichtet Hunschofsky.

Die hohe Kunst des Lieferkettenmanagements beherrscht man auch in Reutte. Seit 13 Jahren ist Harro Borowski, Leiter der Konzernlogistik Plansee, in der Tiroler Unternehmensgruppe tätig. Die Tempoaufnahme in der Supply Chain bestätigt auch der Experte des auf die Herstellung von Hochleistungswerkstoffen spezialisierten Konzerns. Längst wickeln die Westösterreicher ihre Geschäfte über eine globale Organisation ab. Was dort umgesetzt wurde, dürfte Franz Staberhofer, Obmann des Vereins Netzwerk Logistik, gefallen: Er bewundert Betriebe, die es schaffen, Optimierungen in der Lieferkette „ganzheitlich fertigzudenken“. Das gelang den Tirolern zweifelsohne. „Sämtliche Standorte sind in einem gemeinsamen SAP-System integriert“, schildert Harro Borowski. Eine informationstechnische Notwendigkeit, die „aus jedem unserer Produktionswerke ein Lieferwerk macht“, so der Plansee-Mann. Egal ob Reutte oder Shanghai – jedes Werk übernimmt die gesamte logistische Abwicklung. „Wenn erforderlich sogar bis hin zur Importabwicklung“, sagt Borowski.

Das Ergebnis dieser ziemlich einzigartigen, durchgängigen Vernetzung: völlige Transparenz. Denn nicht nur die Produktionswerke sind in das SAP-System eingebunden, sondern auch die Vertriebsniederlassungen und Verkaufsbüros. Will ein Mitarbeiter der chinesischen Niederlassung wissen, wo sich ein aktueller Fertigungsauftrag befindet, entnimmt er diese Information auf einen Blick dem System. Das bringt einen Riesenvorteil. „Die mühseligen konzerninternen Anfragen, wann denn nun geliefert werden könne, „gehören der Vergangenheit an“, so Borowski.

Es gelang aber noch ein weiterer wesentlicher Schritt: die Reduktion der Lieferzeiten. Und zwar in einem solchen Ausmaß, dass Borowski manchmal selber staunen muss: Bis der Kundenauftrag einer lokalen Vertriebseinheit im Produktionslieferwerk bestellt und disponiert war, verging früher mitunter noch eine Woche. Jetzt bestätigt Plansee Aufträge in seinem globalen Produktions- und Liefernetzwerk je nach Verfügbarkeit in den Produktionswerken sofort, längstens aber in nur 48 Stunden.

Beschaffungsrisken minimiert

Dieser Kunstgriff gelang den Tirolern freilich nicht von heute auf morgen – und auch nicht ohne größere Eingriffe. Weltweit definierte, einheitliche Verrechnungspreise ermöglichten ein System mit „durchgerechneten Deckungsbeiträgen“, schildert Harro Borowski. Es gibt nun keine voneinander abweichenden Preislisten mehr im Konzern. Oder anders gesagt: „Intern muss nun keiner mehr über Preislisten verhandeln.“ Und dass das Unternehmen die Schlagzahl erhöht, bestätigt Plansee-Cheflogistiker Harro Borowski auch in einem anderen Punkt. Seit einigen Tagen haben die Tiroler Berater im Haus. „Wir hinterfragen unsere ,Forecastfähigkeit‘ und wollen besser verstehen, wie das Produktionssystem großer Kunden funktioniert“, erzählt Borowski.

Ein Klassiker des S & OP (Sales & Operation Planning)-Prozesses – aber in der bereits durchoptimierten Plansee-Gruppe völlig neu interpretiert: Die Tiroler wollen Dissonanzen bei den Geschwindigkeiten ihrer Lieferkette und jener der Kunden abstellen. Ziel: den Servicegrad zu erhöhen und Beschaffungsrisiken bei den Rohstoffen zu minimieren. „Für die Beschaffung und den Transport von Molybdän haben wir etwa mehrere Wochen Beschaffungszeit“, gibt Borowski ein Beispiel. Dann durchläuft der Rohstoff bei der Herstellung von Hochleistungswerkstoffen einen bis zu achtstufigen Produktionsprozess, der je nach Dispositionsstrategie und Produkt – vom Standardartikel bis zur kundenspezifischen Sonderlösung – bis zu sechs Monate dauert.

Beim Kunden hingegen werden die Produkte in wenigen Wochen verarbeitet und gehen dann als Baugruppe an den Abnehmer. „Unserer relativ langen Supply Chain macht die Zunahme der Marktvolatilität natürlich Probleme“, sagt Plansee-Experte Harro Borowski. Die Lieferkette des Konzerns beginne ja schon „sehr knapp nach der Mine“, sagt er. Borowski strebt deshalb „intelligente Entkopplungspunkte“ in der Wertschöpfungskette an. So könnten Materialien auf der Stückliste künftig als „verbrauchsdisponiertes Material“ geführt werden – also mit einer hohen Verwendungszahl, sprich: Als ein „für unterschiedliche Produkte verwendbares Ausgangsmaterial“, erklärt Borowski.

Leistungsversprechen Liefertreue

Alles richtig machen Firmen, die die Liefertreue als Kern des Leistungsversprechens des Unternehmens betrachten. Soweit die Theorie. Dergleichen versprechen nämlich viele – aber häufig bleibt es eben bei leeren Worten. Das Kärntner Unternehmen Wild nimmt die Sache ernst. Der auf die Entwicklung und Produktion von Medizintechnik und technischer Optik spezialisierte Betrieb hat das Tempo in der Lieferkette längst auf ein exzellentes Maß geschraubt. Bei der Liefertreue sei mittlerweile ein Wert von über 90 Prozent erreicht, erzählt Wild-Geschäftsführer Josef Hackl. Und die Kärntner haben eine Eigenheit, die man noch nicht oft in der heimischen Fertigungsindustrie findet: Das Unternehmen stellt die Liefertreue vor die Kapitalbindung im Lager.

Ein spektakulärer Zugang, mit dem viele Controller wohl so ihre Probleme hätten. Franz Staberhofer, Leiter Logistikum an der FH Steyr, gefällt der Ansatz umso mehr: „Eine solches Konzept bietet gute Chancen, die eigene Marke zu stärken“, meint er. Freilich nur, solange es gelingt, den Servicelevel „extern zu kommunizieren und intern auch entsprechend auszurichten“. In dieselbe Richtung denkt Hackl: Die Kärntner wollen ihre „Logistikleistung weiterhin verbessern“. Zugleich sei es das dezidierte Ziel, „das Leistungsversprechen noch stärker in der Unternehmensmarke zu verankern“, sagt Hackl.

Puffer statt Troubleshooting

Einmal jährlich führt Wild deshalb Kundenbefragungen, erweitert um Fragen zur Supply Chain, durch. Das Ergebnis sei ein ernstgemeinter Aufruf zu weiteren Verbesserungen. Alle Prozesse werden auf die Termintreue ausgerichtet. Man schaue, dass man „alle Liefertermine, auch interne, einhalte – ohne Troubleshooting“, betont Hackl. Letzteres sei in der Betriebswirtschaft ja „aus gutem Grund eine Verlustleistung“. Flexibel halten die Kärntner ihre Lieferkette im Übrigen durch ein perfektes Logistikkonzept, das dem Betrieb im Vorjahr sogar einen Logistikpreis einbrachte. Eine der vielen Maßnahmen: Statt Eilaufträgen setzen die Kärntner nun auf „kürzestmöglichen Durchlauf aller Aufträge – etwa mit Pufferregalen vor der mechanischen Produktion sowie der Lackierstation“, sagt Hackl.