Logistik : Die kleinen Schritte zum Physical Internet

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Der quirlige Kanadier schaffte ein seltenes Kunststück. Er brachte ein Logistikthema in die Schlagzeilen. Noch dazu ein kompliziertes. Als der Logistikforscher Benoit Montreuil vor rund drei Jahren sein Konzept eines Physical Internet verbreitete, war die Begeisterung über die visionäre Idee groß. Die Vorstellung eines global vereinheitlichten Transportsystems, das die Funktionalität des digitalen Internet in die physische Welt übersetzt, war so spannend, dass sie weit über die Fachwelt hinaus diskutiert wurde. Die Vorteile des Systems sind mittlerweile ebenso durchdekliniert wie seine möglichen Schwachstellen – etwa die Frage, inwieweit Unternehmen tatsächlich bereit wären, ihre Daten in ein offenes System zu spielen.

Zellvermehrung

Dass es um das Thema medial etwas ruhiger wurde, sieht Franz Staberhofer, der Leiter des Logistikum in Steyr, durchaus als Vorteil. Ruhe hilft schließlich beim Arbeiten. „Ich glaube, dass viele vom globalen Anspruch dieser Idee eingeschüchtert sind. Verwirklicht werden kann sie aber nur, indem man beginnt, in einzelnen Dimensionen ein Stück Physical Internet zu schaffen. Diese Zellen werden sich vergrößern, und andere Zellen werden sich aus anderen Richtungen annähern.“ Genau so, erinnert Staberhofer, ist ja auch das digitale Internet entstanden.

Gleich mehrere dieser Zellen wachsen in Österreich. Eine der wichtigsten ist das Atropine-Projekt, das unter der Leitung des Logistik-Professors Oliver Schauer vier zentrale Fragen im Fokus hat: Wie entwickelt man standardisierte Kommunikation? Wie schafft man standardisierte, intelligente Ladungsträger? Wie entwickelt man Shared Infrastructure im Transport- und Lager-Bereich? Und welche Geschäftsmodelle sind geeignet? Dazu haben die Projektleiter Firmen aus unterschiedlichen Branchen versammelt, die gemeinsam ein „Geschäft“ nach den vorgaben des PI aufstellen.

Am Beginn des Projekts stand eine Entscheidung, die den grundlegenden Zugang zum PI-Thema gewissermaßen spiegelt: „Wir mussten uns zwischen zwei Wegen entscheiden“, erzählt Franz Staberhofer. „Entweder, einen Piloten zu entwickeln und darüber dann das Geschäft abzuwickeln. Oder aber, einfach mit dem Geschäft zu beginnen und parallel dazu die Voraussetzungen für den Piloten zu schaffen.“ Man entschied sich für zweiteres. Praxis vor Theorie.

Das besondere an Atropine ist, dass es gelang, alle relevanten Branchen zur Teilnahme zu bewegen. Dass etwa mit der Hofer KG auch ein Player aus der notorisch verschwiegenen Handels-Welt daran beteiligt ist, kann als enormer Erfolg verbucht werden. „Wir haben die Industrie im Projekt – und zwar nicht als Feigenblatt“, freut sich Franz Staberhofer, „deshalb können wir wirklich interdisziplinäre Forschung betreiben.“ Rund ein Jahr habe es gedauert, eine „gemeinsame Sprache“ zu entwickeln, erzählt Staberhofer, und alleine das Thema Datenfreigabe war ein schier endloses. Seit ein paar Monaten arbeiteten nun alle Teilnehmer intensiv und disziplinübergreifend zusammen. Ohne große mediale Begleitung.

Über Intranet zum Internet

Eine weitere Zelle entsteht im Rahmen des oberösterreichischen Automobil-Clusters. Das Forschungsprojekt „DigiTrans“ ist nicht von Physical Internet getrieben, doch deckt es unzweifelhaft auch diesen Aspekt ab. DigiTrans arbeitet an Aufbau und Betrieb einer Testumgebung für automatisiertes Fahren. Nicht im Pkw-Bereich, sondern im Logistik-Umfeld. So geht es etwa um den Einsatz von Nutz- und Sonderfahrzeugen oder um das automatisierte Fahren im Bereich von Hubs.

DigiTrans entspricht genau dem Ansatz von Staberhofer: sich dem Ziel anzunähern, indem man zunächst in möglichst vielen Einzelbereichen Erfolge erzielt. „Es geht darum, so etwas wie ein Physical Intranet zu schaffen, um das Physical Internet zu erreichen. Wenn Sie so wollen, müssen wir erst im eingezäunten Hof spielen, und wenn wir das beherrschen, dann können wir uns auch raus auf die Straße trauen.“

Mosaiksteine

Viele Geschäftsmodelle, die derzeit weltweit entstehen, werden das Physical Internet befördern, ohne das zu intendieren. Staberhofer erzählt von einem US-Startup, das er kürzlich besuchte: eine regional begrenzt agierende Frachtenbörse, die Leerkapazitäten mit kleinen Zusatzaufträgen füllen will. Das Unternehmen erzielt pro Auftrag Margen von bis zu über 20 Prozent – in der Branche ein geradezu obszön hoher Wert. Der Trick der Firma? „Sie sind in ihrem vergleichsweise kleinen Bereich extrem gut vernetzt und kennen buchstäblich jede Adresse und jeden Schleichweg.“ Ein Modell, das natürlich nicht skalierbar ist. Und ob das Unternehmen expandiert oder untergeht, weiß niemand. In jedem Fall trägt es einen weiteren Mosaikstein zum Physical Internet bei: die Erfahrung optimierter Mikro-Disposition.

Geschäftsmodell statt nur Bericht

Ruhe ist also höchstens nach außen eingekehrt, das Thema ist quicklebendig. Und dass es eines Tages Realität wird, bezweifelt Franz Staberhofer nicht: „Die Idee ist so spannend und Nutzen bringend, das wird auf jeden Fall kommen. Wir müssen uns nur dazu zwingen zu arbeiten.“ Ein pragmatischer Ansatz, der sich auch auf geschäftlicher Ebene zeigen könnte. Das Ergebnis eines Forschungsprojekts wie Atropine müsse ja nicht unbedingt nur ein Bericht sein. Es könne auch ein Geschäftsmodell werden, für das man Käufer sucht. „Genau das“, sagt Staberhofer, „klären wir gerade ab.“