Lagertechnik : Die innovativsten Läger der Welt

Natürlich macht der Versuch Spaß – auch wenn man weiß, dass es nicht funktionieren wird. Mitten im nagelneuen Hochregallager von Lenze in Asten eine Zigarette anzuzünden, hat dennoch den Kitzel des Verbotenen, selbst wenn Geschäftsführer Marco Gattringer-Ebner höchstselbst Feuerzeuge verteilt hat. Die Rauchpause muss verschoben werden. Dank Zuführung von Stickstoff entspricht der Sauerstoffgehalt im Lager jenem auf mehreren tausend Metern Seehöhe. O2-Reduktion statt Feuerlöscher. Mit einer ähnlich originellen Lösung machte vor kurzem Kostwein beim Fabrik2012- Award Furore. Die Boxen des Kleinteilelagers liegen im Regal auf Waagen, die einmal pro Nacht automatisch das Gewicht ermitteln. Die an das ERP-System gelieferten Daten werden mit dem Mindestgewicht verglichen, und im Falle einer Differenz ergeht eine automatische Bestellung an den Lieferanten oder an die eigene Produktion. Adaptive Logistiksysteme Hochintelligente Einzel-, aber keine Insellösungen: „Adaptive Logistiksysteme“ nennt Hans-Christian Graf, was in modernen Lagern immer häufiger sichtbar wird. Der Logistikspezialist und Professor am Logistikum Steyr bezeichnet sie als „Antwort der Intralogistik auf der Suche nach Flexibilisierung von Logistikleistungen und Kosten“: die Kombination einer Summe von kleinen, aber intelligenten Leistungs- und Funktionseinheiten zu dynamischen Gesamtsystemen, die zu einem Optimum an Effektivität bei wechselnden Bedarfen führen. „Bedarfsschwankungen“, meint Graf, „führen oft zu sehr volatilen Materialflüssen und Auslastungsschwankungen. Unternehmen versuchen, mit der Erweiterung des systematisierten Austauschs von Planungs- und Auftragsdaten Stabilität und Planbarkeit bei den Mengenflüssen zu erreichen.“ Je größer aber die Anzahl der Teilnehmer in einem Wertschöpfungsprozess werde (und das sei immer öfter die Realität), desto unvorhersagbarer und weniger steuerbar werde auch das Verhalten von Gesamtsystemen. Auf ein Bonmot reduziert: „Logistik lässt sich nur begrenzt planen.“ Unschärfe „In diesem Lager hat wirklich alles einen Tag“, freut sich Rudolf Hansel. Im europäischen Zentrallager des US-Online- Computershops YOCS in Norditalien setzt man eine Technologie ein, um die es zuletzt etwas stiller geworden war – RFID. Jeder einzelne Posten des Lagers wird mit Hilfe der Tags im Durchlauf zur Kommissionierung mehrmals geprüft, beschreibt der Vertriebsleiter von TGW Systems in Wels den Zweck des allgemeinen Taggings. Hier geht´s weiter

Gemeinsam mit dem Lieferanten der Lesegeräte entwickelte TGW ein spezielles Tool, das die für das Verfahren notwendige Geschwindigkeit möglich macht – womit der häufig als Argument gegen den Einsatz von RFID vorgebrachte Knackpunkt entschärft war. RFID-Tags, sagt Hansel, „werden ganz bestimmt nicht auf jedem Lebensmittel landen, aber wenn man über den Umgang mit werthaltigen Waren nachdenkt, wird man auf weitere sehr interessante Möglichkeiten stoßen. Die RFID-Technologie arbeitet sich derzeit von ziemlich weit unten langsam wieder hinauf.“ Etablierte Technologien für neue Zwecke zu nutzen, entspricht dem Ansatz von Hans- Christian Graf: „An die Stelle der klassischen Supply Chains mit Standardtechnologien treten intelligente Lager- und Transporteinheiten, die aufeinander und mit ihrer Umgebung reagieren können.“ Zukunftsfähige Intralogistik müsse das starre System der Prozessketten zugunsten eines flexiblen, ereignisoffenen Ansatzes aufgeben, der nicht alles berechnet – der aber auf alles zumindest angemessen reagieren kann. Graf bemüht einen Vergleich mit der Quantenphysik: Logistische Prozesse unterlägen einer gewissen Unschärfe, „und diese Eigenschaft findet in der Anwendung des klassischen Supply Chain Managements wenig Beachtung. Zu stark ist der stete Wunsch nach Vorbestimmtheit der Abläufe und Standardisierung der Prozesse, der immer wieder zu dem Versuch führt, das Unvorhersagbare vorherzusagen.“ „Radikal andere Lösung“ Das Unvorhersehbare vorhersagen wollte man auch bei Jack Wolfskin. Rund 16.000 Positionen sind im Lager des Outdoor-Bekleidungsherstellers permanent verfügbar. „Das Geschäft zum Saisonbeginn hat bei uns eine Planbarkeit dahingehend, dass wir dieses Volumen um bis zu vier Wochen vorher in die Disposition nehmen können“, erzählt der für die Logistik verantwortliche CFO Christian Brandt. Rund 70 Prozent der Aufträge erfordern Lieferung ab Lager. Die bisherige, rein manuelle Logistiklösung mit sequenzieller zweistufiger Kommissionierung kam mit dieser Anforderung nicht mehr mit. „Wir haben viel gerechnet, wir haben geplant und haben festgestellt, dass dieses Konzept einfach nicht mehr skalierbar ist. Da war uns klar, dass wir es radikal anders lösen müssen“, beschreibt Brand den Moment der Erkenntnis. Die radikale Lösung: In der Nähe des Hamburger Hafens entstand ein nagelneues 30.000-m2- Lager. „Wir haben die EDV ausgetauscht, wir haben Technik ausgetauscht, wir haben die Organisation und Prozesse radikal geändert und sind dabei umgezogen“, erinnert sich Brand an die wohl härteste Zeit seines Berufslebens. Hier geht´s weiter

Ein Beispiel für den integrativen Ansatz ist die Neuordnung der Entladungslogistik: Jack Wolfskin band die Lieferanten kurzerhand in die eigene Intralogistik ein. Die einzelnen Kartons gelangen vorwiegend in Containern über Schiffstransport in das Lager und werden dort direkt aus dem Container auf das automatische Fördersystem übergeben, automatisch identifiziert, vermessen und verwogen, mit einem internen Label versehen und ins Kartonlager transportiert. Dies ist nur möglich, wenn die Lieferanten die Etikettierung der Warenkartons übernehmen. Logistikleiterin Uta Mohr: „Wir haben schon früh mit diesem Prozess begonnen, schon vor zweieinhalb Jahren, als wir die Etiketten noch gar nicht auswerten konnten. Aber wir wussten, dass wir diese Vorlaufzeit zum Training unserer Lieferanten brauchten.“ Das Ergebnis: Dauerte die Entladung eines einzigen Containers früher bis zu einem ganzen Tag, so liegt der Rekord aktuell bei 45 Minuten – inklusive manueller Kontrolle, Sortierung und artikelreiner Palettierung der Kartons, Etikettierung, Verbringung und Einlagerung der Paletten. „Atomare Services“ Der Mann sitzt in einem Käfig und lässt sich in den Lagerkanal kutschieren. Ein Karton mit Cerealien ist beschädigt und muss entfernt werden – wenn möglich, ohne den gesamten Ablauf zu stoppen. Als die britische Weetabix Food Company ihr neues Lager mit 22.000 Palettenstellplätzen konzipierte, integrierte sie ihr Sicherheitskonzept auf höchst intelligente Weise: Die Palettenregalbediengeräte und die Satellitenfahrzeuge für die Lagerung der Paletten im Kanallager dienen gleichzeitig als Transporteinheiten für die Zugangskäfige. Eine Funktion, die den freien Wartungszugang gemäß sämtlicher Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften ermöglicht. Ob der Mann im Käfig Professor Michael ten Hompel vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik kennt, ist nicht bekannt. Dessen Ansatz der „Logistics by Design“ erfüllt er jedenfalls: Anstelle atomarer Prozesskettenelemente werden ebenso kleinteilige, atomare Services bestimmt, die im Gegensatz zu einer eher festgefügten Prozesskette nur lose untereinander gekoppelt sind. „Da die Reihenfolge des Aufrufs nicht vorbestimmt ist“, erklärt Hans-Christian Graf, „kann eine große Menge unterschiedlicher Prozesse oder Serviceketten abgebildet werden, ohne die einzelnen Dienste selbst zu ändern.“ Intralogistik als Prozess der Vereinheitlichung und Standardisierung, um beim Eintreffen eines Ereignisses mit ebenso standardisierten Verhaltensmustern zu reagieren: Das reicht nicht mehr, sagt Graf. „Diese Entwicklung wird durch die Erkenntnis getragen, dass es in Zukunft wesentlich wichtiger sein wird, die Flexibilität logistischer Systeme sicherzustellen, als ein Optimum für eine dezidierte Konstellation zu bestimmen, die niemals exakt so eintreffen wird, wie sie geplant wurde.“ Denn wie gesagt: Logistik lässt sich nur begrenzt planen.