Luftfahrtindustrie : Der Absturz einer Boeing und das System MCAS: Was derzeit bekannt ist

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© APA/dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Nach dem Absturz zweier baugleicher, neuer Flugzeugtypen binnen weniger Monate gerät der US-Flugzeugbauer Boeing unter Druck. Obwohl die US-Luftfahrtbehörde FAA die betreffenden Boeing 737 Max 8 weiter für zuverlässig hält, reagieren Passagiere verunsichert. Österreich und die EU sowie zahlreiche weitere Staaten weltweit haben Flugverbote erteilt. Aktuell dazu: Österreich und EU mit einem Flugverbot für Flugzeuge Boeing 737 Max 8 >>

Flugverbote lösen eine Dynamik aus, der sich global immer mehr Betreiber und Regierungen anschließen. Nordamerika blieb bisher die Ausnahme. Was ist bisher bekannt?

(1) Der UNFALL: Ungewöhnliche Berichte von Augenzeugen

Augenzeugen wollen gesehen haben, dass sich die Boeing vor dem Aufprall nahe der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba am Sonntag um die eigene Achse gedreht hat, andere berichten von Flammen. Laut der Airline meldeten die Piloten Probleme mit der Flugsteuerung. In Verdacht geriet schnell die Steuerungssoftware - laut Medienberichten sollen zwei US-Piloten schon 2018 auf einer anonymisierten Meldeplattform über Probleme damit berichtet haben.

Die Bilder vom Unfallort deuten darauf hin, dass sich die Maschine fast senkrecht und mit hoher Geschwindigkeit in den Boden gebohrt hat. Die Trümmer liegen eng beieinander - ein Hinweis, dass der Rumpf beim Aufprall noch weitgehend intakt war. Die Boeing 737 Max 8 von Ethiopian Airlines war auf dem Weg nach Nairobi kurz nach dem Start abgestürzt. Konkrete Hinweise auf die Ursache erhoffen sich die Ermittler durch die Auswertung von Cockpit-Stimmenrekorder und Flugdatenschreiber.

(2) Die KONSEQUENZEN

Zunächst setzten Singapur und Australien alle Flugaktivitäten der Boeing-737-Max-8-Flugzeuge vorsichtshalber aus, diverse Airlines und Luftfahrtbehörden rund um den Globus zogen mit Startverboten und Luftraumsperren für diesen Typ nach. Unternehmen wie der Tui-Reisekonzern handelten erst zögerlich, weil sie sich zunächst auf Empfehlungen der US-Luftfahrtbehörde FAA stützten. Diese sieht bisher keine Notwendigkeit für Flugverbote, zumal Boeing selbst Software-Modifizierungen in Aussicht gestellt hat.

(3) Die Reaktionen der PASSAGIERE

Die zunächst widersprüchlichen Airline- und Behörden-Entscheidungen dürften die Verunsicherung bei Passagieren erhöht haben. Annullierungen von Flügen sind in Europa jedoch eher unwahrscheinlich: Bei der Flotte des Tui-Konzerns etwa sind nur 15 von rund 150 Flugzeugen betroffen: Sie wurden in Großbritannien und den Benelux-Ländern eingesetzt. Der Konzern will nun andere Flugzeuge chartern, Ersatzkapazitäten einsetzen und Flüge umbuchen.

(4) BOEING selbst

Der US-Luft- und Raumfahrtriese kämpft ausgerechnet bei seinem hoffnungsfroh gestarteten jüngsten Kassenschlager gegen eine schwere Vertrauenskrise und ein Image-Fiasko. Details: Zweiter Absturz in kurzer Zeit: Boeing enorm unter Druck >>

Neben eventuell drohenden Entschädigungs- und Schadenersatzforderungen der Kunden kann Boeing durch die Flugverbote auch bestellte Maschinen nur verspätet ausliefern. Betroffen ist etwa der Tui-Konzern, der die erste Maschine dieses Typs für die deutsche Tuifly diese Woche aus Seattle nach Hannover fliegen wollte. Die Boeing-Aktie sackte bereits kräftig ab.

Die auf weniger Spritverbrauch getrimmte Boeing 737 Max 8 ist eine Neuauflage der seit den 1960er-Jahren gebauten Boeing 737 und wird in der neuen Form mit größeren und sparsameren Triebwerken ausgeliefert. Konkurrenzmodell ist der Airbus A320neo.

(5) BEHÖRDEN: Schwere Belastung zwischen EU und USA

Die Bewertung der Zuverlässigkeit der Boeing 737 Max 8 droht auch die Beziehungen der Luftfahrtbehörden in den USA und Europa zu belasten. Denn nachdem die Europäer bisher Entscheidungen der FAA regelmäßig mittrugen, scherten sie nun aus und folgten mit ihrem Flugverbot für den Jet der FAA-Einschätzung nicht. Auch wenn die Unglücksursache noch nicht geklärt ist, setzt sich die US-Behörde nach Ansicht ihrer Kritiker mit ihrer Entscheidung der Kritik aus, den ehernen Grundsatz der Fliegerei - "Safety first" - zu missachten. Aktuell dazu: Österreich und EU mit einem Flugverbot für Flugzeuge Boeing 737 Max 8 >>

(6) TRIMMSYSTEM MCAS IM FOKUS

Nach dem Absturz einer Ethiopian-Airlines-Maschine untersuchen Ermittler das Boeing-Trimmsystem MCAS. Es ist möglicherweise dafür verantwortlich, dass die Boeing 737 MAX 8 kurz nach dem Start in Addis Abeba verunglückte. Dabei starben 157 Menschen - ein ähnlicher Absturz des gleichen Modells in Indonesien kostete vergangenen Oktober 189 Menschen das Leben.

Beide Flugzeuge stiegen nach dem Start mit äußerst unregelmäßiger Flugkurve und -geschwindigkeit, sanken anschließend unkontrolliert ab und schlugen steil auf den Boden auf. Die US-Luftfahrtbehörde FAA erkannte die Ähnlichkeit beider Unfälle an, wollte aber keine verfrühten Schlüsse ziehen. Weiters dazu: Diese Software brachte offenbar die Boeing 737 Max zum Absturz >>

Der Flugdatenschreiber des Lion-Air-Flugs 610 liefert eine Vorstellung des Absturzverlaufs: Demnach kämpften die Piloten um Kontrolle über das Flugzeug, während MCAS die Flugzeugnase nach dem Start immer wieder nach unten drückte. Die Piloten des Ethiopian-Airlines-Jets berichteten vor dem Absturz per Funk über ähnliche Probleme.

Boeing hatte das Trimmsystem wegen der neuen, verbrauchseffizienteren Triebwerke eingeführt. Diese verändern aufgrund ihres erhöhten Gewichts die Aerodynamik und den Schwerpunkt des Flugzeuges. Besonders im Steigflug kann der Schub der Triebwerke so stark werden, dass sich die Maschine nicht mehr gerade ausrichten lässt.

(7) Die ECKDATEN ZU MCAS

MCAS (Maneuvering Characteristics Augmentation System) soll genau das verhindern. Sensoren, die den Flugwinkel messen, melden dem System, wenn das Flugzeug zu übersteuern droht. Dann drückt ein Stabilisierungs-Mechanismus am Heck der Maschine die Nase wieder nach unten.

Eigentlich soll sich das System nur in außergewöhnlichen Situationen einschalten. Im Fall des Lion-Air-Fluges war laut einem ersten Unfallbericht ein fehlerhafter Sensor dafür verantwortlich, dass es aktiviert wurde.

Einen Tag vor dem Absturz der indonesischen Maschine im Oktober hatten Piloten es geschafft, das MCAS im selben Flugzeug außer Kraft zu setzen. Dafür ist es jedoch nötig, die gesamte automatisierte Flugkontrolle abzuschalten.

(dpa/afp/apa/red)