Logistik : Connected Supply Chain: Der gemeinsame Nenner

supply chain lieferkette firma company unternehmen logistik business zulieferer lager scm design logistikzentrum intralogistik kommissionieren kommissionierung kommissioniersystem optimierung smart factory industrie 4.0 digitalisierung prozesse daten zusammenarbeit organisation just-in-time logistikprozess
© j-mel - Fotolia

Wesentlich komplizierter kann eine Supply Chain nicht sein. Und wenn Ludwig Pekarek sie als „mehrdimensional“ bezeichnet, ist das wohl als Euphemismus zu werten. Der COO des Amstettener Schalungstechnikers Doka hat es mit einem Geschäftsmodell zu tun, das die Lieferkette naturgemäß an ihre Grenzen bringt: Doka verkauft die Schalungen nicht nur – rund die Hälfte des Umsatzes in den entwickelten Märkten kommt aus dem Verleih. Verleih an Baustellenbetreiber, das heißt: Der Kunde kann seinen eigenen Zeitplan wesentlich weniger exakt planen als ein produzierender Betrieb. „Wir können also nie zu hundert Prozent genau prognostizieren, was wir wann zurückbekommen werden“, sagt Ludwig Pekarek. Das Gleiche gilt für den Zustand der Schalungen: Viele sind verschmutzt oder weisen Beschädigungen auf. Manche gehen auch einfach auf der Baustelle verloren.

Eine Unsicherheit in der Planung, die Doka bis jetzt auch über die Bestände abgefedert hat. Die rund 150 weltweiten Standorte beliefern einander permanent mit dem Benötigten – und das muss rasch gehen: „Für uns ist eine sehr hohe Lieferfähigkeit entscheidend, da kein Kunde mehrere Monate auf seine Schalung warten kann, wie das etwa im Automotive-Bereich möglich ist“, sagt Pekarek, „und diese Lieferfähigkeit halten wir bisher in erster Linie auf Kosten hoher Bestands-Vorhaltungen ein.“ Das Umsatzgift Bestände zu minimieren und gleichzeitig die Lieferfähigkeit wenn möglich sogar zu steigern, will Doka dank Connected Supply Chain schaffen.

Datenqualität vor Technologie

Connected Supply Chain wird üblicherweise technologisch definiert. Die Idee, alle Elemente einer Lieferkette so miteinander zu vernetzen, dass nicht nur die Prognostik massiv verbessert wird, sondern die IT bei Störungen der Supply Chain sogar automatische Reaktionen auslöst, wird meist als Aspekt des Internet of Things diskutiert.

Andreas Tengler empfiehlt, einen Gang zurückzuschalten: In erster Linie gehe es um die Datenqualität, betont der Leiter der Wiener Niederlassung der Logistikberatung Barkawi. „Früher gab es zum Beispiel den Mitarbeiter am Telefon, bei dem sich der Hafenarbeiter gemeldet hat, wenn ein Container beschädigt war. Heute soll das ein lernendes Online-System übernehmen – doch dessen Funktion ist von der Qualität der Daten abhängig, und die reicht oft noch nicht aus. Das ist natürlich lösbar, aber es kostet Zeit und verlängert die Implementierung.“ Es geht durchaus um Sales & Operations Planning – doch wenn die Daten nicht stimmen, schlägt das System bei Problemen falsche Lösungen vor oder leitet diese gar automatisch ein. „Und dann“, warnt Andreas Tengler, „wird die Lösung erst richtig komplex.“

Die technologischen Fragen sind auch vom Bedarf des Unternehmens abhängig. In der Automotive-Industrie, in der die Linien keinesfalls stehen dürfen, wird es ohne Hightech nicht gehen. Stehen aber Bestandsminimierung, Kundenservice oder Kostenreduktion im Fokus, dann ist Connected Supply Chain auch mit Hilfe guter Prozesse denkbar. Ein gute Nachricht übrigens für Unternehmen, die sich massive Investitionen in Technologie nicht leisten können: „Wir stehen technologisch vor einer ganzen Bandbreite an Möglichkeiten – die Chips im Container sind nur das eine Ende der Skala.“

Prädiktive Steuerung

Das andere Ende der Skala repräsentiert BMW. Die Bayern betreiben 31 Produktionsstandorte, an denen rund 9.000 Fahrzeuge pro Tag vom Band gehen. Täglich erreichen 30 Millionen Teile die Werke. Die Taktzeit liegt im Schnitt bei einer Minute. Das Ziel des Autobauers – von jedem Bauteil Lokalisation und Zustand in Echtzeit zu kennen – ist ohne Hightech nicht denkbar. Und die ist längst auf dem Markt. Der flächendeckende Einsatz der kommunikationsfähigen Sensoren scheitert derzeit noch an den hohen Kosten – die allerdings kontinuierlich sinken.

Ist dieses Hindernis einmal ausgeräumt, öffnen sich erstaunliche Möglichkeiten. Am Ende soll ein System stehen, in dem nicht nur buchstäblich jeder Bauteil weltweit getrackt wird, sondern das auf Störungen in der Supply Chain sofort und selbstständig reagiert. „Indem wir – wie bei einem Radar – Störungen in der Supply Chain frühzeitig erkennen, können wir schnell entsprechende Maßnahmen ergreifen“, sagt Wolfgang Rudorfer, Projektleiter Connected Supply Chain bei BMW. „Insgesamt wollen wir von einer manuellen und nachträglichen Problembetrachtung zu einer prädiktiven und aktiven Steuerung kommen.“

97 Prozent

Im Vorjahr setzten die Bayern das „Connected Supply Chain Cockpit“ als Prototyp um. „Wesentliche Elemente sind die frühzeitige Alarmierung bei Abweichungen in der Supply Chain, die Bedienung unterschiedlicher Systeme aus einem Cockpit und die fachbereichsübergreifende Nutzung durch die physische Logistik, Materialsteuerung und Transportplanung“, erklärt Wolfgang Rudorfer. In den kommenden Monaten und Jahren werden sukzessive weitere Teilsysteme pilotiert und in den Serienbetrieb überführt. Für den Teilbereich Condition Monitoring sind bereits erfolgreich Piloten in der Werks-Inboundlogistik in Betrieb.

„Für die Überseeversorgung ist die Transparenz heute schon zum Teil vorhanden, für die kontinentale Versorgung derzeit in Bearbeitung“, sagt Rudorfer. Und die Effekte können sich schon heute sehen lassen: Mit einem Vorläufer des aktuellen Modells durchleuchtete BMW zum Beispiel die Luftfrachtkosten. Zwischen 2012 und 2015 schafften es die Logistiker so, die Luftfrachtkosten bei der Belieferung der chinesischen Werke um 97 Prozent zu senken.

Fokus Change Management

Was BMW mit Technik löst – und lösen muss – ist bei Doka eher eine Frage des Change Management: die für bessere Prognostik notwendigen Informationen strukturiert ins System zu bekommen. „Das ist durchaus ein psychologisches Thema“, sagt Ludwig Pekarek. „Wie bringe ich die Mitarbeiter in unseren Niederlassungen dazu, die notwendigen Informationen vom Kunden einzuholen und ins System zu spielen? Wie motiviert man also Menschen, etwas zu tun, dessen Benefit sie nicht unmittelbar spüren? Denn die Kunden bekommen ja auch heute ihr Material, nur eben um den Preis einer starken Überdeckung der Ressourcen, die aber für die Mitarbeiter nicht direkt sichtbar sind. Dabei ist in meinen Augen das Einholen der Informationen, die eine bessere Prognostik erlauben, gar kein großer Mehraufwand. Aber eine Veränderung.“

Ludwig Pekarek räumt ein, dass man auch bei Doka zunächst vor allem Technik und Struktur im Blick hatte und sich zu wenig auf Change Management konzentrierte. „Doch das beste IT-Tool ist völlig sinnlos, wenn Sie die Menschen nicht an Bord haben. Die Mitarbeiter müssen sich einbezogen fühlen, man muss ihnen die gebührende Aufmerksamkeit geben und die Vorteile einer Systemveränderung gut erklären. Und auf der Management-Ebene ist das Verständnis für die Kosten, die Working Capital verursacht, ja vorhanden.“

Ein Prozess, kein Projekt

Die zweite Ebene, das strukturierte Zusammenführen der gesammelten Information, macht ihm weniger Kopfzerbrechen. Am schwierigsten, sagt Pekarek, sei hier das Finden der richtigen Balance: Wie fein granuliert müssen die Informationen sein, und wie fein granuliert können die Mitarbeiter diese liefern? Letztlich sei dies eine Frage, in der immer wieder neu justiert werden muss. Andreas Tengler spricht er damit wohl aus dem Herzen: „Connected Supply Chain ist kein Projekt, es ist ein Prozess, der möglicherweise nie abgeschlossen werden kann“, betont der Barkawi-Chef. „Das ist wie im Lean-Bereich: Wer behauptet, ‚Lean habe ich jetzt auch gemacht’, der hat den Lean-Gedanken nicht verstanden.“

Am wenigsten schreckt Ludwig Pekarek der dritte notwendige Schritt: „Das Abbilden der Ist-Daten und der Prognose-Daten in einem gemeinsamen System ist im Vergleich noch die geringste Herausforderung.“ Bis Jahresende will Doka rund 80 Prozent der Projektziele erreicht haben. Und dazu gehört eine grundlegende Strukturänderung: Die Bestände sollen an mehreren weltweiten Distribution-Centern zusammengezogen werden, von denen aus die Standorte beliefert werden.

Totale Transparenz

Psychologische Auswirkungen dürften auch im Automotive-Bereich nicht ausbleiben. Connected Supply Chain, wie sie bei BMW verstanden wird, kann nur funktionieren, wenn die Lieferanten hundertprozentig an Bord sind. Und das heißt: totale Transparenz als Basis operativer Steuerung sowie taktischer und strategischer Planung. „Zur Schaffung der notwendigen Transparenz ist in der jüngeren Vergangenheit das Thema Datentransparenz und Datenaustausch neu hinzugekommen“, bestätigt BMW-Logistiker Wolfgang Rudorfer.

Andreas Tengler sieht es nüchtern: „Natürlich muss man seine Schlüssellieferanten dazu bringen, den Schritt in Richtung Connected Supply Chain gemeinsam zu gehen. Aber wenn wir ehrlich sind: Der kleine Familienbetrieb als Lieferant in der Automobilindustrie hat diese Umstellung längst gelernt. Sonst ist er ohnehin schon Vergangenheit.“