Brexit : Brexit: Die größte Verliererin ist die britische Wirtschaft selbst

Nach der Entscheidung der Briten für einen EU-Austritt erwarten Ökonomen gravierende wirtschaftliche Einbußen in Europa. Direkte nennenswerte Auswirkungen auf Österreich sehen hiesige Experten indes zumindest vorerst nicht. Am schmerzhaftesten werde der Brexit die Briten selbst treffen, urteilte die deutsche Bertelsmann-Stiftung. "Es ist eine Situation, in der alle verlieren, die EU-Mitgliedsländer und ganz besonders dramatisch Großbritannien", sagte Andreas Esche, Leiter des Wirtschaftsbereichs der Stiftung.

IV: Austritt ist wie eine Selbstsanktionierung

Blieben die EU-Länder bei ihrem angekündigten harten Kurs gegen die ausstiegswilligen Briten, zeichne sich eine Abschottung ab, die die britische Wirtschaft bis ins Jahr 2030 mehr als 300 Mrd. Euro kosten könnte.

Aus Sicht der österreichischen Industriellenvereinigung (IV) wird der Schaden eines EU-Austritts für die Briten zwischen drei und zehn Prozent der Wirtschaftsleistung liegen - je nachdem, wie der Umgang der EU mit den Briten in der Zukunft ist, ergeben vier Szenarien der Industriellenvereinigung. Der Austritt komme einer "Selbstsanktionierung" gleich, sagt IV-Chefökonom Christian Helmenstein.

Schlechte Nachrichten für London kamen auch aus Asien. Chinesische Unternehmen werden wohl weniger als bisher im Königreich investieren. Chinas Vizeaußenminister Li Baodong warnte auf dem "Sommer-Davos" genannten Weltwirtschaftsforum in Tianjin zwar vor Panik. Doch Experten erwarten einen Rückzug der Chinesen, die in den vergangenen Jahren in kein anderes EU-Land mehr investiert haben. "Es wird ein Schlag für den britischen Investitionsmarkt", sagte Zheng Chaoyu von der Pekinger Volksuniversität der dpa.

"Brexit heißt: Ihr seid raus"

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sprach sich trotz aller Befürchtungen für einen klaren Schnitt aus. "Ich glaube nicht, dass es im Interesse der Europäer ist, den Briten einen guten Deal zu geben", sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. "Brexit heißt: Ihr seid raus." Jedes Entgegenkommen würde Nachahmereffekte provozieren. In Ländern wie Italien, Frankreich und den Niederlanden könnte es ähnliche Bewegungen geben. Wirtschaftlich gebe es nur Verlierer durch einen Brexit. Auch in Deutschland werde sich das Wachstum abschwächen. Das DIW senkte seine Konjunkturprognose für Deutschland für 2017 bereits deutlich um 0,5 Prozentpunkte.

Die österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitute IHS und Wifo bleiben bei ihren kurz vor dem Brexit abgegebenen aktualisierten Wirtschaftsprognosen für heuer und nächstes Jahr. Österreichs BIP soll demnach 2016/17 je um 1,7 Prozent (Wifo) bzw. 1,5 Prozent (IHS) wachsen. Der Brexit wird nach Berechnungen bis 2030 das BIP maximal um 0,18 Prozent schrumpfen lassen. Banken-Volkwirte haben aber eine Revidierung ihrer Einschätzungen angekündigt.

Wifo und IHS ändern ihre Prognosen nicht

Die US-Ratingagentur Moody's erwartet in Großbritannien sinkende Konsumausgaben und Investitionen und damit ein geringeres Wirtschaftswachstum. Der Ausblick sei von "stabil" auf "negativ" gesenkt worden, teilte die Agentur mit. Damit droht dem Land eine Herabstufung seiner Bonität. Das würde es tendenziell teurer machen, sich am Finanzmarkt Geld zu besorgen.

Die Studie der Bertelsmann-Stiftung erwartet einen Einbruch des britischen Bruttoinlandsprodukts bis 2030 um bis zu 14 Prozent. Mehr als 50 Prozent seines Import- und Exportgeschäfts wickelte Großbritannien zuletzt mit EU-Mitgliedstaaten ab. Fallen die Handelsprivilegien weg, verteuern Zölle und andere Effekte den Austausch von Waren und Dienstleistungen. Zu den Bereichen, die es den Experten zufolge besonders treffen wird, zählen die Maschinenbau- und Automobilbranche, aber auch die Pharma- und Chemieindustrie. Isoliere sich Großbritannien in Handelsfragen komplett, könnte auch Deutschlands Wirtschaft Verluste von insgesamt mehr als 55 Mrd. Euro einstecken.

Besonders treffe die Abschottung jedoch den bedeutsamen Finanzsektor. Es fehle ein wichtiger Grund, nach England zu kommen: Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Von Abwanderungen vom Finanzplatz London könnten etwa Frankfurt, Paris oder andere Finanzzentren profitieren. Spekuliert wird in der Londoner City über 50.000 bis 70.000 Finanzjobs, die ins Ausland verlagert werden könnten. Es würden bereits Büroräume in Frankfurt oder Madrid angemietet. Auch Dublin stehe als Ausweichstandort ganz oben auf der Liste.

Auch chinesische Investitionen könnten nun stärker in den Rest Europas fließen. "Der unbegrenzte Zugang zum EU-Binnenmarkt und die Möglichkeit, Talente aus ganz Europa zu rekrutieren, waren bisher wesentliche Gründe für chinesische Investoren, in Großbritannien aktiv zu werden", sagte Jan Gaspers vom China-Institut Merics in Berlin. Viele chinesische Firmen in Großbritannien dürften jetzt einen Umzug auf den europäischen Kontinent erwägen. (dpa/apa/red)