Interview : BMW-Agile-Coach Marcus Raitner: "Wir falten die klassische Chefrolle in drei neue auf"

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Herr Raitner, schon mal daran gedacht, Ihren CEO zu entmachten?

Marcus Raitner Nein. Wie kommen Sie darauf?

Um die digitale Transformation zu stemmen, arbeiten Unternehmen daran, Mitarbeiter zu Entscheidungsträgern zu machen - mitunter mit basisdemokratischen Konzepten. Braucht es noch Führungskräfte?

Raitner Eine Demokratie erzeugt ja auch wieder Hierarchie. Zwar eine gewählte, demokratisch legitimierte. Aber das ist nichts anderes als eine Macht auf Zeit. Unternehmen brauchen doch etwas ganz anderes. Es geht darum, dezentrale Entscheidungsstrukturen zu schaffen. Die Welt dreht sich schneller, da braucht es Tempo. In den gewohnten Gremien und Hierarchien geht alles viel zu langsam. Unternehmen müssen Entscheidungsmacht an die Peripherie abgeben, Subsidiarität fördern. Das ist oftmals das Gegenteil davon, wie hierarchische Organisationen aufgesetzt sind.

Das Management muss sich also zurücknehmen.

Raitner Ja, und damit tun sich viele Führungskräfte schwer. In Unternehmen schaffen Mitarbeiter in der Regel den hierarchischen Aufstieg, weil sie Experte in ihrem Gebiet sind. Manchmal verliert man dann durch eine Beförderung einen guten Experten und gewinnt eine schlechte Führungskraft. Damit sind die Organisationen seit Jahren konfrontiert.

Die Lösung?

Raitner Loslassen können. Wie Netflix-CEO Reed Hastings. Der freut sich über Quartale, in denen er überhaupt keine Entscheidungen mehr trifft, sie stattdessen Mitarbeiter treffen lässt. Oder wenn wir in unsere Organisation schauen: Sie können bei uns gern Experte bleiben, dann werden Sie Product Owner, haben keine Mitarbeiterverantwortung, aber dürfen entscheiden, wie Sie ihr (IT-)Produkt weiterentwickeln. Dazu haben Sie ihr Budget, über das sie frei verfügen können, sowie ihre stehenden Teams. Oder Sie werden Chef, also eine disziplinarische Führungskraft, dann dürfen Sie aber nicht mehr fachlich reinquatschen, sondern sind voll für die Entfaltung der Mitarbeiter verantwortlich.

Und als dritte Rolle kommt der Methodencoach in Form des Scrum Masters dazu. Er sorgt dafür, dass das Team laufend produktiver wird. Was früher in der klassischen Chefrolle mehr schlecht als recht vermischt wurde, falten wir in drei neue Rollen auf. Daraus ergeben sich natürlich Fragen. Es werden aber auch welche aufgelöst.

Sie sind als Transformation Agent seit 2015 bei BMW, seit dem Vorjahr arbeiten Sie an der organisatorischen Neuausrichtung der BMW Group IT mit ihren rund 5000 Mitarbeitern. Wie begeistert ist die Belegschaft von Ihrer Idee, Veränderung nicht mehr als Ausnahme, sondern als Regel zu begreifen?

Raitner Man merkt, dass die Leute Lust auf die neue Organisationsform mit ihren kurzen Entscheidungswegen haben. Die Teams können autonom und selbstorganisiert handeln - in projektloser Arbeit. Wenn ein interner Kunde einen Auftrag an die IT hat, muss er keinen Antrag für ein Projekt einbringen und wochen- oder montatelang auf eine Genehmigung warten. Er geht idealerweise zum zuständigen Product Owner und der entscheidet, ob das Feature mit welcher Priorität eingeplant wird und vielleicht dann schon in den nächsten drei Wochen umgesetzt wird.

Keine Härtefälle?

Raitner Keiner wird gern verändert. Aber jeder verändert gern. Und da liegt der Hebel: Mitarbeiter zur eigenverantwortlichen Arbeit am System zu ermächtigen.

Keine Protestnoten bei jenen, die errungene Machtbefugnisse schützen wollen?

Raitner Nein, wir haben weiterhin sehr geringe Fluktuation und genießen besseres Ansehen als IT-Arbeitgeber denn je. Eine Mitarbeiterbefragung in unserer Hauptabteilung bescheinigt uns sehr gute Werte. Das festigt das Prinzip der Selbstorganisation.

Wie wichtig ist es, die Teams auch altersmäßig gut zu durchmischen?

Raitner Erfahrung ist ein Wert. Ein 55-jähriger Mainframe-Entwickler verfügt über einen Durchblick, der einem Vertreter der Generation Y fehlt. Umgekehrt spricht einiges für die jungen Querdenker.

Stichwort angstfreier Raum: Wie steht es in den agilen Zellen ums Scheitern?

Raitner Früher wurde als erstes immer der Chef gefragt und dann in verschiedenen Gremien eine Entscheidung vorbereitet und abgesichert. Jetzt wollen wir dezentral und schneller entscheiden und nehmen damit auch Irrtümer in Kauf. Im Vordergrund steht dabei das schnelle Lernen.

Braucht es auch neue Bewertungsmaßstäbe von Managerleistung?

Raitner Ich bin kein Freund von Zielvereinbarungen in Verbindung mit monetären Anreizen. Bei der Wissensarbeit funktioniert das nachweislich nicht, im Gegenteil: Es erzeugt lokale Optimierung und Silos.

Für Patriarchen ist in Netzwerkorganisationen auch noch Platz?

Raitner Die sind immerhin langfristig und nachhaltig orientiert. Und wenn sie in einer Mitarbeiterumfrage einmal einen Schuss vor den Bug bekommen, sind sie auch durchaus wandlungsfähig.

Abschlussfrage: Wie wird eigentlich Ihr Erfolg gemessen?

Raitner Unter anderem durch die Zahl der Menschen intern wie extern, die ich durch meine Arbeit erreiche.

Brauchen Sie den Druck von oben?

Raitner Ich kann damit umgehen. Was ich mehr brauche ist die Vision von oben. Meine Rolle liegt außerhalb der Hierarchie. Ich bekleide eher die Position des Hofnarren: Nicht Teil des Hofstaats, aber mit der Erlaubnis, den Status Quo zu hinterfragen. Das liegt mir.