Digitalisierung : Bernhard Kienlein: "Diskussion über Disruption ist notwendig. In KMUs und Großkonzernen wie Siemens"

Herr Kienlein, Sie sind seit über 28 Jahren im Siemens-Konzern tätig. Da haben Sie einige technologische Umbrüche miterlebt.

Kienlein In meiner Zeit als junger Hochschulabgänger war die Welt der Automatisierung relativ geschlossen. Es gab Automatisierungssysteme, große zentrale Racks mit zahlreichen I/O-Baugruppen und teilweise mehreren Zentralbaugruppen, alles zentral verkabelt – auch die Programmierung war herstellerspezifisch, sogar Betriebssysteme proprietär …

Dabei blieb es nicht lange...

Kienlein Mit der Abkehr vom zentralen Ansatz hin zu dezentralen Architekturen ging ein erster großer Schwung an Standardisierung einher, bedingt durch die Anforderung an eine herstellerübergreifende Kommunikation. Allerdings waren die damals verfügbare Rechenleistung, der Speicherplatz und die Kommunikationsleistung für die Anwender durchaus limitierende Faktoren hinsichtlich Produktivität, Effizienz und Flexibilität. Nach vielen Jahren der Innovation sind das heute natürlich keine Themen mehr, ebenso wie räumliche Einschränkungen, die ja durch das Internet und die aktuell verfügbaren Kommunikationstechnologien quasi vollständig aufgehoben sind. Wir können uns jetzt voll auf die Anforderung einer Applikation konzentrieren. So gesehen ist die Kontinuität in der Automatisierung gegeben, wenn auch heute auf einem ganz anderen Niveau verglichen zu früher.

Was Produktionsbetriebe begrüßen dürften.

Kienlein Absolut. Gerade in der Prozessindustrie geht es darum, die erheblichen Investments und teilweise aufwändigen Zulassungsverfahren über einen langjährigen zuverlässigen Betrieb zu amortisieren. Da sind Anlagen gefragt, die 30 oder 40 Jahre hoch verfügbar und zuverlässig laufen und bei denen trotzdem kontinuierlich die Effizienz verbessert werden kann.

So gibt es für Unternehmen der Prozessindustrie auch verschiedene Möglichkeiten, die Transformation zum Digital Plant umzusetzen. Sie können bestehende Anlagen Schritt für Schritt in die digitale Welt bringen, den Einstieg in den integrierten Betrieb aber auch durch Überführung bestehender Dokumentationen in digitale Daten vollziehen. Wofür sich ein Kunde auch entscheidet, wir von Siemens werden ihn mit unserem tiefen Branchen- und Prozess-Know-how und mit unseren fundierten Kenntnissen im Bereich der Automatisierung und Antriebstechnik sowie der Industrie-Software und Datenanalytik dabei unterstützen.

Die Konzern-Vision 2020 zielt auf eine Fokussierung auf die Wachstumsthemen Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung ab – mit der stärksten Dynamik bei letzterem. Was bedeutet das für die von Ihnen im Wirtschaftsraum CEE verantwortete Antriebstechnik?

Kienlein Innovative Antriebsprodukte sind Voraussetzung für den Geschäftserfolg, jedoch sind sie nicht hinreichend dafür. Entscheidend ist vielmehr deren horizontale und vertikale Integrationsfähigkeit im gesamten Lebenszyklus, d.h. beim Engineering, im Betrieb und beim Service einer Anlage – von der Simulation eines Antriebssystems über Energiemanagement bis hin zur vorbeugenden Wartung: Mit unsere Plattform Integrated Drive Systems schaffen wir gemeinsam mit unseren Kunden Werte. Das gelingt uns über unsere umfassende Lösungs-, System- und Servicekompetenz in vielen Branchen der Prozessindustrie.

Systempartnerschaften bleibt Siemens aber treu, oder?

Kienlein Definitiv verfolgen wir weiterhin den erfolgreichen Ansatz der Zusammenarbeit mit dezidierten Systempartnern wie den Siemens Solution Partnern und den Value Add Reseller.

Aktuell sorgt die Diskussion um disruptive Geschäftsmodelle - oftmals von der Start up-Szene hervorgebracht - für einen Ruck in den etablierten Industrien. Viele überprüfen derzeit ihre Geschäftsmodelle, mit der Konsequenz, sich technologisch zu öffnen.

Kienlein Die Diskussion ist notwendig und wird rege geführt - in Großkonzernen genauso wie in KMUs. Der Druck auf Effizienz, Produktivität und Flexibilität ist gewaltig. Jetzt gibt es die Chance, die richtigen Veränderungen herbeizuführen, durch neue Technologien, aber auch durch neue Geschäftsmodelle. Siemens ist seit langem bewusst, dass der Erfolg des Unternehmens in seiner Innovationsstärke liegt. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Ideen kluger Köpfe innerhalb und außerhalb unseres Unternehmens auch schnell und unkompliziert umgesetzt werden wurde vor ein paar Monaten der Start-up-Inkubator "Innovations AG" gegründet. Die Einheit gibt Freiräume zum Experimentieren und zum Wachsen. Darüber hinaus versteht sich die Innovations AG als Berater, Förderer und als eine Art Risikokapitalgeber für Geschäfts- oder Projektideen, die sich unabhängig vom Stammgeschäft entfalten sollen.