Industrie 4.0 : 6 Thesen zur wandlungsfähigen Produktion der Zukunft

Wenn bei dem österreichischen Automobilzulieferer Miba die Maschinen laufen, dann wird darauf fast jeden Tag etwas anderes produziert. Einmal gilt es, einen Reparaturauftrag als Sonderanfertigung abzuarbeiten, dann wieder zweihundert Komponenten für ein Großlager zu fertigen, worauf wiederum eine Serienproduktion von gut 10.000 Stück folgt. Kein Wunder daher, dass Miba in Österreich zu den Pionieren der Komplettfertigung gehört. Hier wurde aus dem Zwang zur maximalen Flexibilität schon früh der Traum eines jeden Produktionsingenieurs verwirklicht, auf ein und derselben Maschine so viel wie möglich zu erledigen: Drehen, Fräsen, Bohren, möglichst automatisiert, mit möglichst kurzen Umrüstzeiten. Inzwischen träumen auch die Ingenieure bei Miba in Laakirchen einen neuen Traum: nicht mehr eine Maschine, die alles kann, sondern eine ganze Fabrik, die sich bedarfsorientiert umrüstet. Dass eine solche wandelbare Fabrik kommen wird, ist sicher. Doch wie nahe sind wir ihr heute schon? Sechs Thesen.

These 1: Wandel ist mehr als Flexibilität.

Schon heutige Produktionen sind flexibel genug, um in einem noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbaren Variantenreichtum zu produzieren. Wer es nicht glaubt, der soll sich einmal die Mühe machen zu recherchieren, wie viel Sitzbezugsmuster und sonstige Ausstattungsvarianten es für einen beliebigen Pkw gibt. Doch die wandelbare Fabrik verspricht mehr: Sie kann nicht nur nach Wunsch unzählige Varianten fertigen, sondern ist so ausgelegt, dass sie an den immer schnelleren technologischen Wandel anpassbar bleibt und damit in Zukunft vielleicht ganz anders konfigurierte Werkstücke und ganz andere Volumina bewältigt.

Und sie ist lernfähig: "Es sind mittlerweile Roboter im Einsatz, die sich durch selbstlernende Algorithmen sukzessive selbst optimieren. Diese Fortschritte werden an die anderen, im Team arbeitenden Roboter kommuniziert, um so das Gesamtsystem kontinuierlich zu verbessern", sagt Erich Markl, Leiter des Studiengangs für Internationales Ingenieurwesen an der FH Technikum Wien. In einigen Testfabriken funktionieren solche Dinge heute schon. Womit klar wird, das sich die wandelbare Fabrik von der bislang vorherrschenden flexiblen Fertigung zumindest in folgenden wichtigen Punkten unterscheiden wird: Sie wird auf Entwicklungen der Zukunft ausgelegt und autonom lernfähig sein.

These 2: Die wandelbare Fabrik wird menschenfreundlich sein.

Im Zusammenhang mit Industrie-4.0-Entwicklungen ist es das Angstszenario schlechthin: eine Fabrik ohne Menschen. Oder bestenfalls: Die Menschen sind zwar noch da, aber degradiert zu bloßen Befehlsempfängern kalter, seelenloser Roboter. Und selbst nicht ganz so ängstlichen Zeitgenossen erscheint das physische Nebeneinander von Mensch und Roboter, wie es in der wandelbaren Fabrik Standard sein wird, als eine gefährliche Angelegenheit. Bislang hat man Roboter daher ja auch in Käfigen, hinter Gittern arbeiten lassen. Heute arbeiten allerdings zum Beispiel im Volkswagenwerk im deutschen Salzgitter Mensch und Roboter Hand in Hand, ohne Schutzzaun.

Hermann Studnitzka, Leiter von Didactic Concepts Festo Österreich, sieht darin auch das Modell der Zukunft: "Mit unserem bionischen Handlingassistenten zeigen wir schon heute, wie ein sicheres Miteinander von Mensch und Maschine ohne Schutzzaun aussehen kann. Ein wichtiges Thema, denn klassische Schutzzäune hemmen die Flexibilität, sie passen also nicht in die Vision von Industrie 4.0. Dennoch muss die Sicherheit des Menschen natürlich oberstes Gebot sein."

Dass der Mensch die wandelbare Fabrik sicher betreten und bedienen kann, ist aber nur Teil des Konzepts. Durch ihre Wandlungsfähigkeit wird die Fabrik der Zukunft sich nämlich nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen auf abwechselnde Aufträge einstellen können. Und das wiederum wird den dort arbeitenden Menschen zugutekommen. So wird derzeit beim Vorarlberger Lichtspezialisten Zumtobel an einem Projekt gearbeitet, bei dem die Beleuchtung der einzelnen Arbeitsplätze sich mithilfe von Sensoren automatisch an den gerade dort arbeitenden Menschen anpasst: Für einen Ein-Meter-Achtzig-Mann wird der Platz dann ganz anders ausgeleuchtet als für eine Eins-Sechzig-Frau. Und je nachdem, welcher Arbeitsschritt ansteht, kommt das Licht fokussiert auf einen bestimmten Punkt oder leuchtet auch die Umgebung aus.

These 3: Die wandelbare Fabrik braucht eine andere Ausbildung.

Die neue, wandelbare Fabrik macht auch ein totales Umdenken bei der Ausbildung der Mitarbeiter nötig. Zunächst einmal, indem dafür gesorgt wird, dass der Transfer vom herkömmlichen, analogen Wissen in die digitale Welt gelingt. Für die Produktion der Zukunft ist der beste Fachmann nämlich nahezu wertlos, wenn er sein Wissen nicht auch in einem digitalen Rahmen verwenden kann. Franz Fidler, Studiengangsleiter Digitale Medientechnologien und Smart Engineering an der FH St. Pölten ist daher überzeugt: "Unabhängig davon, wie unterschiedlich die Anforderungen an die Produktionsmitarbeiter in Zukunft auch sein werden, eines wird auf jeden Fall noch wichtiger als bisher sein: Kenntnisse im Umgang mit digitalen Medientechnologien." Was ein gutes Stück weit damit zu tun hat, dass die für eine wandelbare Produktion nötige Mensch-zu-Maschine-Kommunikation sonst ja gar nicht funktionieren kann.

Hermann Studnitzka von Festo macht auch noch auf einen anderen Punkt aufmerksam, wenn er fragt: "Wie bereitet man seine Mitarbeiter am besten vor, wenn man doch noch gar nicht genau weiß, welche technologischen Entwicklungen sich in den nächsten Jahren durchsetzen werden? Ich rate zu einer Änderung des Personalentwicklungsprozesses – weg von der klassischen Bildungsbedarfsanalyse mit anschließendem Fachtraining. Man sollte stattdessen viel mehr bei der Entwicklung von Methoden und Fähigkeiten, Haltungen und Einstellungen ansetzen." Oder anders formuliert: den Betroffenen Tools in die Hände geben, mit denen sie sich, wie die Fabrik selbst, eigenständig an neue Anforderungen anpassen können.

These 4: Wandlungsfähigkeit braucht (auch) Design.

Friedrich Bleicher, Vorstand des Instituts für Fertigungstechnik und Hochleistungslasertechnik, ist bekannt dafür, dass er Dinge beim Namen nennt. Nach Voraussetzungen für das Gelingen einer wandelbaren Fabrik gefragt, nennt er daher, neben vielen mehr oder weniger aufwendig lösbaren technischen Fragen auch den sozialen Aspekt: "Nehmen Sie eine innovative Informationssystemlösung wie die Datenbrille. Damit verbunden sind aber zwei essentielle Punkte: Funktion bzw. funktionelles Design und soziale Akzeptanz. Beides muss stimmen, sonst kann ein Wandel nicht stattfinden."

In Sachen Design kann man zum Beispiel viel von Rettungsdiensten lernen, wo ganz bewusst versucht wird, digitale Werkzeuge so zu gestalten, dass sie sich vertraut anfühlen. Etwa, indem man fühlbare Tasten macht, weil das in Stressituationen immer noch die beste Rückmeldung ist, ob eine Eingabe tatsächlich gemacht wurde oder nicht. Ein eigenes Kapitel sind auch nutzerfreundliche Oberflächen der Endgeräte, die nicht nur auf den konkreten User optimiert sind, sondern auch auf die konkreten Geräte, auf denen sie benutzt werden.

These 5: Nicht alles Machbare wird auch ökonomisch sinnvoll sein.

Wie bei vielen technologischen Entwicklungen der Vergangenheit – auch bei der wandelbaren Fabrik – wird am Ende die Ökonomie der limitierende Faktor sein. So wird es ab bestimmten Mengen zum Beispiel auch in Zukunft günstiger sein, zwei unterschiedliche Maschinen nebeneinander zu nutzen als beide Arbeitsgänge in eine einzelne wandelbare Maschine zu integrieren.

Auch Rainer Ostermann, Country Manager von Festo Österreich, ist daher überzeugt, dass bei Weitem nicht jede Produktion in Richtung wandelbare Fabrik gehen wird: "Technologie ist nur dort ein Segen, wo sie sinnvoll eingesetzt wird. Die Lösungen von Industrie 4.0 werden künftig zwar sehr wichtig sein, aber in der Praxis nicht allgegenwärtig. Auch in Zukunft wird es die Massenproduktion geben, denn nicht jedes Produkt verlangt nach höchster Flexibilität und Losgröße 1."

These 6: Trend zu Losgröße 1 begünstigt die wandelbare Fabrik.

Eine mit wenigen Varianten wiederholende Serienproduktion braucht den ständigen Wandel nicht. Dort aber, wo Sonderanfertigungen gefragt sind, wo es auf Losgröße 1 ankommt, sind der wandelbaren Fabrik fast keine Grenzen gesetzt.

Vor allem in Kombination mit additiven Verfahren, also der gemeinhin als 3D-Druck beschriebenen Entwicklung,wird eine heute kaum noch zu erahnende Breite an Flexibilität möglich. Vor allem dann – und die Entwicklung geht in diese Richtung –, wenn die Auswahl an 3D-druckfähigen Materialien weiter zunimmt. Nach wie vor ist dieser Bereich aber ziemliches Neuland und es gibt hier noch jede Menge offener Fragen zu klären. Das geben Experten auch zu.

Werker/Facharbeiter

Bisher: Der Werker kennt seine Maschine – jedes Brummen, jedes Knarren, jedes Quietschen und Blinken. Ändert sich etwas, wird sofort nachjustiert oder die Instandhaltung informiert. Die oft über Jahre gleich. Das kann zu führen. Kommt es zu Veränderungen in der Fertigung, ist meist eine Umschulung des Werkers notwendig. Neue Aufgabe - neues Know-how.

Künftig: Veränderung ist Alltag. Die wandelbare Fabrik verlangt immer wieder die Entwicklung von neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Mangels starrer Prozessabläufe ist ein zumindest rudimentäres Verständnis der Zusammenhänge und Prozesse an einer Maschine für den Bediener wichtig. Mensch und Maschine arbeiten auf engstem Raum zusammen. Um diese Zusammenarbeit zu optimieren, werden neue, intelligente Sicherheitssysteme und Schnittstellen entstehen. Stichwort: Anlagensteuerung durch Gedanken. Die Forschung dazu ist schon weit fortgeschritten. Musteranlagen gibt es bereits.

Instandhalter

Bisher: Zwar verfügt der Instandhalter über ein Gesamtverständnis der Anlage, geht es jedoch technologisch in die Tiefe, muss er einen Spezialisten anfordern, zum Beispiel einen Software-Techniker. Regelmäßige Wartung ist ein zentrales Thema, denn nur sie hilft, Ausfälle zu reduzieren. Kommt es dennoch zu einem unerwarteten Stopp der Maschine, kann der Instandhalter den Fehler oft nur mit Hilfe von außen beheben.

Künftig: Mechatronik setzt sich durch - die Maschine arbeitet und funktioniert hochgradig vernetzt. Komponenten überwachen sich selbst und speisen permanent eine Fülle an Daten ins Netz, die auch für die Instandhaltung nutzbar sind. Die Fülle an Daten wird aber auch zur Herausforderung, denn sie ist nur dann ein Vorteil, wenn es auch die dazu passenden Analysetools gibt. Augmented Reality verbindet über das Tablet oder das Smartphone des Instandhalters die reale Anlage mit virtuellen Informationen wie Datenblättern, Videos, Fotos oder Software-Tools.

Konstrukteure/Maschinenbauer

Bisher: Konstruiert werden weitgehend starre Systeme, die eine ganz bestimmte Abfolge von Prozessschritten abarbeiten, um so ein bestimmtes Produkt zu fertigen. Ändert sich das Produkt, muss eine gänzlich neue Anlage entwickelt werden. Das kann MOnate, im schlimmsten Fall sogar Jahre dauern.

Künftig: Flexibilität ist Trumpf. Maschinen sind wandelbar - sie passen sich an das jeweilige Produkt und seine Fertigungserfordernisse an. Grundlage dafür sind intelligente Komponenten und Systeme, die sich selbst konfigurieren. Die richtigen Software-Werkzeuge dafür müssen mit der Maschine von Anfang an mitentwickelt werden. Der Konstrukteur muss dabei auch die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer bedenken, denn der Maschinenbediener benötigt oft ganz andere Informationen als der Instandhalter oder etwa ein Prozessoptimierer.