Forschung : 10 Jahre Fraunhofer Austria: "Wir haben den längeren Atem"

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Heute reden alle von "Big Data" – bei Fraunhofer ist man schon einen Schritt weiter. Seit wenigen Tagen steht hier das Thema "Industrial Fake News" ganz oben auf der Agenda. Was klingt wie ein Zugeständnis an das Vokabular von Donald Trump, ist in Wirklichkeit ein weit verbreitetes Phänomen der industriellen Produktion.

"Industrial Fake News" statt "Big Data"

"Jeder industrielle Anwender hat ein Problem mit der Qualität der Daten. Jeder", sagt Wilfried Sihn, der Fraunhofer Austria maßgeblich mitaufgebaut hat und einer der beiden Geschäftsführer ist. "Die Systeme produzieren jede Sekunde viele Megabyte an Daten. 98 Prozent davon sind völlig nutzlos. Aber die meisten wissen nicht, wie sie am besten an die anderen zwei Prozent herankommen."

Also arbeitet Fraunhofer Austria gerade daran, die Methodik der Daten zu verbessern und die Mengen mit den richtigen Filtern zu reduzieren. Das Ziel: All die Einsen und Nullen aus der Produktion tatsächlich für künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und neuronale Netze verwendbar zu machen. Zum Beispiel aktuell in einem Projekt in der Halbleiterproduktion bei Infineon in Villach. Oder bei Opel in Wien-Aspern. Dort läuft gerade ein Projekt zur "intelligenten Instandhaltung" von Maschinen – aber nicht auf der allgemeinen Ebene, sondern schon auf der Ebene der fünf Hauptkomponenten einer Maschine, womit man einen drohenden Ausfall drei Monate im Voraus sehen kann.

10 Jahre Fraunhofer Austria: Standorte in Wien, Graz, Wattens

Nur zwei von sehr vielen Projektbeispielen von Fraunhofer Austria. Diese Institution feiert Anfang April ihr zehnjähriges Bestehen in Österreich und ist inzwischen fest in der heimischen Landschaft der industrienahen Anwendungsforschung verankert. 2004 starteten die ersten Projektbüros in Wien und Graz unter der Ägide von Wilfried Sihn, der auch Professor für Betriebstechnik und Systemplanung an der TU Wien ist, sowie von Dieter W. Fellner, Leiter des Instituts für Computergraphik an der der TU Graz und Informatikprofessor an der TU Darmstadt. 2009 nahm dann die neu gegründete, selbstständige Auslandsgesellschaft ihre Arbeit auf.

Inzwischen zählt die Gesellschaft 77 Mitarbeiter hierzulande und betreibt drei Standorte: Wien mit dem Bereich Produktions- und Logistikmanagement; Graz mit "Visual Computing" sowie Wattens in Tirol mit der digitalen Transformation der Industrie – übrigens direkt auf dem Firmengelände von Swarovski.

"Wir haben den längeren Atem"

Zeitgleich mit der engen Kooperation mit den Technischen Unis in Wien und Graz sowie der Innsbrucker Leopold-Franzens-Universität stehe die österreichische Industrie als Kunde und Forschungspartner immer im Mittelpunkt, sagt Dieter W. Fellner: "Viele unserer Mitarbeiter kommen aus den Instituten, weil sie imstande sein müssen, ein Anliegen in der Grundlagenforschung abzuholen – aber immer vor dem Hintergrund, dass sie verstehen, wo die Industrie der Schuh drückt. Heute haben wir oft den längeren Atem, und das hat sich herumgesprochen. Wenn ein großer Kunde aus der Industrie bei uns anklopft, ist klar, dass er im eigenen Hause nicht weitergekommen ist. Und er erwartet, dass er recht bald eine sehr konkrete Lösung bekommt – oder vielleicht einen Prototyp."

Teil der größten Organisation für angewandte Forschung Europas

Hinter Fraunhofer Austria steht die Münchner Gesellschaft Fraunhofer, mit rund 27.000 Mitarbeitern und Niederlassungen in fünf Ländern die größte Organisation für angewandte Forschung in Europa. "Unser jährliches Forschungsvolumen beträgt derzeit 2,5 Milliarden Euro", sagt Reimund Neugebauer, Präsident der Gesellschaft, der zum Jubiläum von Fraunhofer Austria nach Wien gekommen ist.

Fraunhofer: Heute vier Schwerpunkte

"Als Fraunhofer in München gegründet wurde, war die Welt eine andere. Heute stellen sich die USA völlig neu auf. China drängt darauf, nicht mehr zu kopieren, sondern ganz eigene Technologien zu entwickeln. Auch in Indien und Brasilien laufen eigene große Industrialisierungsinitiativen", so Neugebauer. Um den Wettbewerbsvorsprung Europas zu halten, stehen demnach bei Fraunhofer aktuell vier Themenblöcke ganz oben:

Erstens der große Bereich der Digitalisierung mit KI, dem maschinellen Lernen oder der Quantensensorik, die unter anderen für mehr Datensicherheit sorgen soll. Zweitens das Thema der Energiespeicherung im Zuge der Energiewende, aber auch die Verwendung von Wasserstoff in der Stahlherstellung wie bei der Voestalpine, oder auch die Batteriezellentechnik, der entscheidende Aspekt bei der der Produktion von Elektroautos. Drittens programmierbare Materialien: Hier werden in solide Werkstoffe Sensoren und "Aktorfunktionalitäten" integriert. Und viertens schließlich grundlegende Neuerungen der Medizintechnik.

"Fraunhofer Austria war nie so etwas wie eine Konzerntochter"

"Bei alledem braucht Deutschland Österreich. Nicht nur, weil wir eine sehr enge gemeinsame Geschichte haben, sondern weil wir auf europäischer Ebene gemeinsam mehr erreichen können, auch beim Thema Förderungen", sagt Fraunhofer-Chef Neugebauer. "Deshalb arbeiten unsere Institute im engen Schulterschluss mit Fraunhofer Austria. Und deshalb war Fraunhofer Austria nie so etwas wie eine Konzerntochter, sondern immer eine eigenständige Gesellschaft nach dem Fraunhofer-Modell."

Sehr weit gefächert

Die Dienste von Fraunhofer Austria kommen an. Zu den Partnern gehören heute Forschungsinstitutionen wie AIT, Zulieferer wie AVL, Magna oder Knorr-Bremse, Maschinenbauer wie Engel, Telekommunikationsfirmen wie Frequentis oder der Bahnbetreiber ÖBB. Die Bandbreite der Projekte reicht von integrierter Logistikplanung über IoT und "data driven design", VR und AR bis zu digitalen Plattformen in Fabriken, Mensch-Maschine-Interaktionen sowie humanzentrierten cyberphysischen Montagesystemen - zum Beispiel wie bei Melecs.

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Wie geht es weiter?

Doch abgesehen von allen technischen Fragen: Wie soll es mit Fraunhofer Austria weitergehen? Zum Jubiläum nennen die Chefs der Insitution einige Zahlen. Den Plänen nach soll sich in den nächsten fünf Jahren der Umsatz von 5,1 Millionen Euro derzeit auf rund zehn Millionen Euro glatt verdoppeln. Auch die Anzahl der Mitarbeiter soll von 77 auf 100 steigen. Zugleich will Fraunhofer Austria auch die Bemühungen für den heimischen Mittelstand deutlich verstärken.

Erwünscht: Eigene Förderungen statt Steuergeld aus Deutschland

Damit kommt auch auf den Staat als Geldgeber einiges zu. Denn nach dem Fraunhofer-Modell übernimmt die öffentliche Hand rund ein Drittel der Ausgaben für die Grundförderung. Bei Fraunhofer Austria war das bisher Geld von der Muttergesellschaft - also von Steuerzahlern in Deutschland.

"Unsere Tochtergesellschaften in Europa tragen sich eigentlich selbst. Die einzigen, in die wir noch Geld reinschaufeln, sind Portugal und Österreich. Das ist auf Dauer der Öffentlichkeit in Deutschland nicht vermittelbar", sagt Reimund Neugebauer. Eine Beteiligung der Republik an einem Drittel der Basiskosten sei tatsächlich auch aus der Sicht des Standortes angemessen, bestätigen Wilfried Sihn und Dieter W. Fellner. Nachdem die Verhandlungen mit dem früheren Finanzminister ergebnislos verlaufen seien, sei man nun mit Minister Norbert Hofer im Gespräch.

Chinesische Anteilseigner machen aus eigenen Landsleuten Gegenspieler

Auch auf Fraunhofer Austria kommt einiges zu. Am Weltmarkt kommen ständig neue, immer mächtigere Akteure ins Spiel, allen voran aus China. Und sie sind längst auch direkt vor der eigenen Haustür präsent – als Investoren, die mit billigem Geld aus Peking gezielt Industriebetriebe mit Schlüsseltechnologien aufkaufen.

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Was macht man aber, wenn ein deutsches oder österreichisches Unternehmen, das inzwischen chinesische Anteilseigner bekommen hat, bei Fraunhofer anklopft und eine grundlegend neue Technologie gemeinsam entwickeln will? Zum Beispiel Kuka – der deutsche Paradebetrieb der Industrierobotik, der kürzlich vom chinesischen Konzern Midea aufgekauft wurde.

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"Hier ist in Zukunft ein kritischer Blick notwendig"

"Ja, das ist ein Problem", gibt Wilfried Sihn zu. "Bei den Kollegen in Deutschland stellt sich diese Frage noch viel drängender. Hier in Österreich sind die meisten unserer Partner doch österreichische Unternehmen. Bei Kuka wäre ich inzwischen vorsichtig. Da muss man unterscheiden: Geht es um die Ausarbeitung von Anwendungen, die es schon zigmal gegeben hat, dann ist eine Zusammenarbeit denkbar. Geht es um grundlegend Neues und jemand wie Kuka kommt auf uns zu, dann ist klar, dass diese Technologie morgen in China ist. Hier ist in Zukunft ein kritischer Blick notwendig."