Digitalisierung : "Wir sind am Niveau von Dampfmaschinen und Schmiedehämmern"

Herr Ebner, als Gründer und Geschäftsführer eines Risiko-Engineering-Unternehmens sind Ihnen disruptive Kräfte der Digitalisierung nicht fremd. Wie sollten Führungskräfte darauf reagieren?

Gerhart Ebner Das Thema Disruption ist nicht neu. Henry Ford sagte einst sinngemäß, wenn er auf die Leute gehört hätte, würde er wohl noch immer versuchen, schnellere Pferde zu züchten. Was neu ist, ist die Beschleunigung, die zerstörerische Kräfte durch die Digitalisierung erfahren. Die gute Nachricht für Führungskräfte ist: Fast alle Informationen über zukünftige Entwicklungen sind bereits vorhanden. Die schlechte: wir sind durch unsere Erfahrung oft blockiert, sie zu erkennen.

Was blockiert uns denn?

Ebner Das Problem ist: Wir sind "defaultmäßig" darauf programmiert, die noch vorhandenen Fehler neuer Systeme als Beweis zu sehen, dass sie nicht funktionieren werden. Warum tun wir das? Weil wir vorprogrammiert sind, an den Erfolg des eingeschlagenen Weges zu glauben und einen Misserfolg so lange wie möglich nicht erkennen wollen. Wir müssen lernen, Denkmögliches "mit allen Konsequenzen" (weiter)zudenken.

Also alle Macht dem Neuen?

Ebner Nein. Denn Denkmögliches kann auch falsch sein, eine Fata Morgana. Richtiges kann auch zu früh getan werden. Das ist meistens genauso schlecht, wie wenn es zu spät kommt. Vielleicht sogar noch schlimmer. Wenn ich mit einer Technologie zu spät komme, kann ich möglicherweise noch mit der alten Technologie mit geringeren Margen etwas verdienen. Wenn ich als Erster scheitere, dann habe ich schon verloren. Es gewinnt der "right time mover" und nicht der "first mover". Wichtig ist, zu erkennen, in welchem Entwicklungsabschnitt sich die eigene Industrie befindet und welche Veränderungsgeschwindigkeit die systemrelevanten Treiber haben.

Wie können Unternehmen die Kultur schaffen, dass Denkmögliches möglichst erfolgreich zu Ende gedacht wird?

Ebner In jedem Unternehmen gibt es "Denker" und "Wisser". Unter Denkern reihe ich die Entwickler, Systemveränderer und Entrepreneure ein; als "Wisser" bezeichne ich die qualifizierten Anwender und "Fortschreiber" erprobter Systeme. Beide sind erforderlich, beide sind Basis von Erfolgen – zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt. Derzeit sind die Wisser massiv in der Überzahl. Die Gegenwart fordert aber immer mehr Denker.

Ein Systemfehler ...?

Ebner Nicht unbedingt. Teams aus wenigen "Denkern" und mehr "Wissern" können sogar erfolgreicher werden als das isolierte "Nebeneinander". Aber es wird immer wichtiger zu erkennen welche technischen und menschlichen "Qualitäten" wir übermorgen brauchen. Wenn wir das nicht schaffen, ist Systemversagen die konsequente Folge.

Kritiker behaupten, die Chancen der Digitalisierung würden maßlos überschätzt. Eine Einschätzung, die Sie teilen?

Ebner Eines ist klar: Bislang hat uns das, was wir unter Digitalisierung verstehen, fast nur "explodierende" Rechner- und Speicherleistungen beschert. Jetzt versuchen wir erstmals, all diese Daten umfassend zu kombinieren und auszuwerten – und damit Verhalten daraus abzuleiten. Aber im Bereich Big Data sind wir noch steinzeitlich. Nehmen Sie die den bekannten Hinweis: "Die Käufer dieses Artikels interessierten sich auch für ..." – Das ist meist nichts anderes als digitale Ableitung von Koinzidenz – und ungefähr das Denkniveau von Hunden: Wenn zwei Dinge gleichzeitig geschehen, gehören sie zusammen. Kausalität zu verstehen und die Beeinflussung des eigenen Tuns in die Berechnung hineinzubringen, ist derzeit nur in einfachen Ansätzen möglich.

Also im Lager der Digitalisierungsskeptiker?

Ebner Keinesfalls: Waren es früher die einfachen, mechanischen Arbeiten, die durch die Automatisierung ersetzt werden konnten, sind es jetzt die "denkmechanisch" einfachen, welche durch die Digitalisierung ersetzt werden können. Doch das wird nicht ewig so bleiben. Wir sind derzeit eben nur am Niveau von Dampfmaschinen und Schmiedehämmern. Am Beginn also. Aber es wird schneller gehen als die Industrialisierung, und viel weiter.