Digitalisierung : Voestalpine Vorstand Franz Rotter: "Wir sind bereit für radikal Neues"

Herr Rotter, Industrie 4.0 ist in den letzten Jahren zum Trendbegriff avanciert. Existieren bei der Voestalpine Edelstahl schon durchgängig digitalisierte Prozessketten?

Franz Rotter Die Durchgängigkeit ist im Gesamten noch nicht gegeben. Auch, weil das natürlich beim Kunden ein evolutionärer Prozess ist. Wir haben verschiedene Tiefen der Digitalisierung. Im Wesentlichen konzentrieren wir uns derzeit darauf, die Lücken in den produktionsinternen Prozessen zu schliessen. Im Vertrieb existieren jedoch bereits durchgängige Prototypenprozessketten – etwa im leistungsstandardisierten Produktsegment...

Was wäre das zum Beispiel?

Rotter Ein Beispiel wäre Präzisionsflachstahl. Hier ist ein Prototypenprozess bei Böhler-Uddeholm in Deutschland aufgesetzt. Über eine Internetschnittstelle können da sämtliche Orderprozesse direkt an die Voestalpine-Prozesse anknüpfen.

Zirka 30 Prozent des Gesamtumsatzes wird in diesem Segment internetbasiert in den Vertrieb gebracht.

Was bedeutet diese Anbindung für Sie als Lieferant – etwa im Bereich der Kapazitätsplanung?

Rotter Eine solche machen wir heute auf stochastische Art und Weise natürlich jetzt schon, wenn wir das Abnahmeverhalten von Kunden analysieren. Es ist oftmals ein Problem für Kunden, ihren Lieferanten Lagerbestandshöhen offenzulegen. Aber der Informationsaustausch etwa über Kundenauftragsreservierungen funktioniert heute schon.

Wird die Digitalisierung zukünftig den klassischen Verkaufsprozess ersetzen?

Rotter Im leistungsstandardisierten Bereich, wo klar definierbare Spezifikationen herrschen, wird der digitalisierte Verkaufsprozess den direkten Verkauf fast völlig ersetzen. Dort, wo es starke Interaktion und eine hohe Beratungskomponente existiert, wird der klassische Verkaufsprozess – etwa durch Produktkonfiguratoren – zwar digital unterstützt werden, aber niemals ganz ersetzbar sein.

Wie wird die Digitalisierung ihre Wertschöpfungsketten verändern?

Rotter In einer mehrgliedrigen Wertschöpfungskette, wie etwa im Automobilbereich vom Werkstoffhersteller zum OEM, beschäftigt sich jeder mit Digitalisierung. Es gibt daher, mathematisch gesprochen, eine Ableitung der Zukunftsvisionen. Der OEM schafft den ersten Input in die Optimierung der Wertschöpfungskette, der definiert seine Zukunftsvision. Dann tut das die zweite Ebene, die auf Basis dieser Vorgaben ihre Digitalisierungskonzepte definiert. Da kann es durchaus passieren, dass eine Stufe dieser Kette den visionären Anforderungen des OEMs nicht folgen kann und damit herausfällt, weil sie diese Leistungsperspektive nicht erfüllen kann.

Was bedeutet das für Ihre Kunden?

Rotter Es stellt sich eher die Frage: Was bedeutet das für uns? Bleiben wir in unseren Systemgrenzen? Oder überschreiten wir diese – und stellen damit für den OEM einen Mehrwert dar? Das ist bei jeder Wertschöpfungslinie sehr unterschiedlich.

Müssen sich Ihre Abnehmer davor fürchten, dass die Digitalisierung dazu führt, dass sie ihn ‚überspringen’ und zukünftig einen Schritt näher zum OEM gehen?

Rotter Wir haben nicht vor, die Kompetenzfelder der Kunden zu kannibalisieren. Schon alleine, weil das eine enorme Barriere ist, die zu überschreiten sehr oft nicht möglich und noch viel weniger sinnvoll ist. Wir haben es ja gerade im Edelstahlmarkt nicht mit einem Kunden, sondern mit einer ganzen Kundenphalanx zu tun. Aber, ich sage auch deutlich: Digitalisierung ist ein evolutionärer Prozess, an dessen Anfang wir erst stehen.

Wovon wird das denn abhängen?

Rotter In einem ersten Schritt muss immer geschaut werden, wie durch eine inkrementelle Innovation mit dem direkten Kunden eine Verbesserung für den Endkunden herbeigeführt werden kann. Wie können wir gemeinsam die Anforderungen des Backmarkets besser erfüllen? Nur, wenn dies nicht gelingt, muss man Schnittstellen neu definieren.

Digitalisierung wird sehr oft mit dem Begriff ‚Disruption’ also einem radikalen Umbruch im Geschäftsmodell in Zusammenhang gebracht. Hat die Digitalisierung auch im Bereich der Metallerzeugung solch disruptive Kraft?

Rotter Man muss beim Thema Industrie 4.0 zwei Dinge klar trennen: Die Digitalisierung kann uns dazu in die Lage versetzen, Dinge anders zu machen. Etwa Prozesse stabiler, kostengünstiger und kontrollierbarer. Aber Digitalisierung kann uns auch in die Lage versetzen, etwas gänzlich Anderes zu tun. Unsere Zukunft wird darin liegen, dass wir durch Digitalisierung innerhalb unserer Systemgrenzen Prozesse optimieren – und disruptive Technologien draufsetzen.

Zum Beispiel...?

Rotter Der 3D-Druck, besser gesagt, die generative Fertigung, ist so ein potenziell disruptiver Ansatz. Wir haben hier die Chance in unserer Kernkompetenz, der Metallurgie, zu bleiben, lösen aber Systemstrukturen auf, und schaffen höheren Kundennutzen. Und da müssen wir im Bereich der in den Materialwissenschaften an Innovationen arbeiten, die radikal Neues möglich machen. Etwa in der Pulvermetallurgie, der Oberflächentechnologie oder im Bereich des eben erwähnten 3-D-Drucks.

Wenn ich an radikal Neues in der Metallurgie denke, fällt mir als erstes – und einziges – das Linz-Donawitz-Verfahren ein, dass die Voestalpine 1952 erfunden hat. Liegt das daran, dass ich mich mit Metallurgie nicht auskenne?

Rotter Es ist eigentlich das klassische Thema der europäischen Werkstoff-Industrie: Wir produzieren in weiten Bereichen auf Basistechnologien, die in den 50er, 60er und 70er Jahren ihren Ursprung nahmen. Der Reifegrad der Prozesse ist sehr hoch. Verbesserungen finden hier zwar viele statt, allerdings nur in sehr sehr kleinen Schritten – zu mittlerweile beträchtlichen Forschungsaufwendungen. Wenn es uns nicht gelingt, auch in der Grundlagenforschung der Materialwissenschaften radikal neues zu denken, wird das Kosten/Nutzen-Verhältnis unserer Entwicklungskosten immer flacher.

Warum ist denn in den letzten Jahren nicht mehr Bahnbrechendes passiert? Sind die klugen Köpfe in den falschen Metiers?

Rotter Das glaube ich nicht. Möglicherweise hat es bahnbrechend Neues einfach in den letzten Jahrzehnten aufgrund der noch vorhandenen Innovationspotenziale der arrivierten Technologien nicht bedurft. Aber das wird sich ändern. Denn die Chancen, dass sich radikal Neues durch die Digitalisierung umsetzen lässt, wird immer größer: Bleiben wir beim Beispiel der Wasserstofftechnologie oder dem 3D-Druck. Die Technologie ist ja an sich nichts Neues. Neu ist jedoch, dass wir mittlerweile zum Beispiel von der Rechnerleistung her soweit sind, die Prozesssteuerung hinzubekommen – das heißt, das enorme Datenvolumen digital zu verarbeiten. Das war mit der IT von vor 15 Jahren noch nicht möglich. Fundamentale Entwicklungen haben immer eine Kernidee – und eine Vielzahl, fast eine Molekülwolke, an Sekundärtechnologie, die sich erst entwickeln muss damit Fortschritt stattfinden kann. Und in diesem Bereich glaube ich sind wir bereit für einen neuen Schritt.