Nach Brexit-Votum : Stimmung in der britischen Industrie verschlechtert sich dramatisch

Das Brexit-Votum lässt die britische Wirtschaft so stark abstürzen wie seit den Nachwehen der globalen Finanzkrise Anfang 2009 nicht mehr. Die Geschäfte laufen derzeit wegen der großen Verunsicherung überraschend mau, wie das Institut IHS Markit am Freitag zu seiner Umfrage unter rund 1000 Unternehmen mitteilte.

"Im Juli hat sich die Konjunktur dramatisch verschlechtert", sagte Markit-Chefökonom Chris Williamson und erwartet im Sommer sogar ein Schrumpfen der Wirtschaft auf der Insel. Die Dienstleister blicken so skeptisch nach vorn wie seit siebeneinhalb Jahren nicht mehr - damals steckte die gesamte Weltwirtschaft nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers in einer tiefen Rezession.

Die Briten haben sich Ende Juni in einem Referendum entschieden, die Europäische Union (EU) zu verlassen. Viele Ökonomen gehen davon aus, dass Großbritannien deshalb in ein Konjunkturtal abgleitet. Der inzwischen zurückgetretene Regierungschef David Cameron hatte noch kurz vor der Volksabstimmung vor einem Brexit und dessen Folgen für die Wirtschaft gewarnt: "Das ist die Option zur Selbstzerstörung." Camerons damalige Regierung hatte betont, wegen des EU-Austritts könnten mindestens eine halbe Million Jobs wegfallen und die Reallöhne binnen zwei Jahren um fast drei Prozent schrumpfen.

Die neue Regierung in London unter Premierministerin Theresa May muss nun den Abschied aus der EU verhandeln, sieht aber zuerst die Notenbank (BoE) am Zug, um der Wirtschaft über den Schock hinwegzuhelfen. Experten rechnen fest damit, dass die BoE Anfang August ihren Leitzins von derzeit 0,5 Prozent - bereits jetzt ein Rekordtief - senkt und auch ihr Anleihen-Kaufprogramm ausweitet.

Mit Blick auf die Markit-Daten sagte Analyst James Smith von der Großbank ING: "Dies bestätigt unsere Einschätzung, dass die Bank von England für weitere Impulse sorgen wird." Die Zahlen setzten das britische Pfund unter Druck. Es verlor binnen Minuten rund einen US-Cent auf 1,3166 Dollar. Bereits nach dem Referendum war das Pfund auf das Niveau von Mitte der 1980er-Jahre abgestürzt.

Der gemeinsame Einkaufsmanager-Index für Industrie und Dienstleister rutschte im Juli auf 47,7 Punkte ab, nach 52,4 Zählern im Vormonat. Das ist der schwächste Wert seit April 2009. Damit fiel das Barometer unter die Schwelle von 50 Punkten, oberhalb der Wachstum angezeigt wird. Es war der stärkste Rückgang seit dem Umfragebeginn vor 20 Jahren. Der neue Finanzminister Philip Hammond sagte, Großbritannien werde seine Wirtschaft in der jetzigen Phase unterstützen. Der Index gebe nur eine Momentaufnahme wider.

Die Abkühlung zeige sich in Auftragsstornierungen, weniger Neugeschäft sowie verschobenen oder beendeten Projekten, erklärte Markit-Chefvolkswirt Williamson. "Meist wurde dies auf die eine oder andere Art mit dem Brexit begründet." Derzeit signalisiere die Umfrage ein Schrumpfen der Wirtschaft um 0,4 Prozent im dritten Quartal. Allerdings müsse man abwarten, wie die Firmen den Schock im August verdauten. Zu Jahresanfang war die britische Wirtschaft noch um 0,4 Prozent gewachsen. Daten für das zweite Quartal werden nächste Woche erwartet. Experten rechnen hier mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von 0,5 Prozent.

Mittelfristig dürfte eine Konjunkturschwäche in Großbritannien auch die Euro-Zone belasten. So senkten Ökonomen wegen des Brexit-Votums ihre Wachstumsprognose für die 19 Euro-Länder im nächsten Jahr auf 1,4 von 1,6 Prozent, wie aus einer Umfrage unter Beobachtern der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hervorgeht.

Der Einkaufsmanager-Index von Markit für den Währungsraum hingegen signalisierte zwar das schwächste Wachstum seit anderthalb Jahren. Das Barometer fiel aber nur leicht um 0,2 auf 52,9 Punkte. "Wir sehen dies nicht als ersten Hinweis auf den von vielen befürchteten Brexit-Schock", sagte Commerbank-Experte Ralph Solveen. Die Index für Deutschland kletterte sogar um 0,9 Punkte auf das Jahreshoch von 55,3 Zählern. (APA/Reuters/red)