Interview : "Ich bin von Europa enttäuscht"

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Wer wie wir derzeit mit dem Zug von Wien nach Wels anreist, teilt sein Abteil mit Vertriebenen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Was geht Ihnen bei solch einem Anblick durch den Kopf?

Stefan Pierer Das Handling des enormen Flüchtlingsstroms ist eine Frage der Menschlichkeit – aber vor allem eine gesamteuropäische Frage. Was mir dabei durch den Kopf geht ist vor allem die Uneinigkeit und Kleingeistigkeit unseres Europas. Die Union zeigt kein Leadership. Es gibt keine Lösungskompetenz.

Nun ist Europa von der Flüchtlingswelle einigermaßen überrascht worden – und immerhin gibt es bereits Ansätze einer Lösung. Bei der Verteilung nach Länderquoten wurden etwa erstmals Länder überstimmt ...

Pierer Wir erleben die mangelnde Lösungskompetenz doch in allen Bereichen – in den Griechenlandverhandlungen, in der Ukraine-Politik – oder aber eben in der Flüchtlingsfrage. Der jährliche europäische Beitrag für die Unterstützung der syrischen und irakischen Auffangflüchtlingslager lag bisher bei 150 Millionen Euro. Ich bin überzeugt, wenn nur ein Bruchteil in den Lagern angekommen wäre, hätten sich nicht diese Massen an Menschen aufgemacht, eine derart gefährliche Reise anzutreten.

Hat die Griechenlandfrage ihrer Meinung nach die sich ankündigende Migrationsproblematik überdeckt?

Pierer Man sollte als Europäische Union schon die Kapazität für zwei Herausforderungen haben. Doch die Griechenlandfrage wurde auch gnadenlos überbewertet. Wir reden von zwei Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Nicht mehr. Die Pleite zeigt nur, dass man nicht ewig auf Pump leben kann.

Droht die Europäische Union an ihrer Führungsunfähigkeit zu zerbrechen?

Pierer Nun, im Vergleich zu anderen Staatenbünden ist die Europäische Union noch sehr jung. Aber eines muss ich schon feststellen: Ich bin extrem enttäuscht. Das ist nicht, was ich mir unter einem vereinten Europa vorgestellt habe.

Die Gemeinschaftswährung sollte die Krönung der europäischen Einigung darstellen. Dient sie wenigstens dem Zusammenhalt?

Pierer Nein, im Gegenteil, wie das Schauspiel rund um Griechenland gezeigt hat. Der bedingungslose Kampf um den Euro gefährdet doch die europäische Idee. Nur über eine Abwertung kann etwa die Abwärtsspirale der griechischen Wirtschaft wieder eingefangen werden.

Was uns überrascht, ist der Stimmungswandel bei Unternehmern. Der riesige gemeinsame Markt und die Schaffung einer Weltwährung galten noch vor kurzem als einzig mögliche Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung für die Industrie. Heute hört man zumindest hinter vorgehaltener Hand andere Töne ...

Pierer Schauen Sie: Schweden, Dänemark, Großbritannien haben keinen Euro, die Schweiz ist nicht einmal EU-Mitglied ...

... und deren Industrie leidet gerade stark darunter, dass der Euro kontrolliert abwertet.

Pierer Das stimmt, aber die Länder sind wirtschaftlich voll handlungsfähig. Um den Euro wurde ein Potemkinsches Dorf aufgebaut. Wer glaubt, dass der Euro alternativlos ist und die Wirtschaftsunion ohne Euro nicht funktionieren könnte, der irrt. Ich bin nicht per se gegen die Gemeinschaftswährung. Aber die gemeinsame Währung ist nichts, das bis zum Äußersten verteidigt werden muss.

Apropos europäische Idee: Österreich war in den Nullerjahren ein Vorzeigeland in der Europäischen Union. Seit drei Jahren hängt uns Deutschland in nahezu allen Messgrößen ab, von Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum bis hin zur Produktivität. Was ist passiert?

Pierer Wir haben in den letzten fünf bis sieben Jahren Hürden aufgebaut, die als Unternehmer immer schwieriger zu bewältigen sind. Das klingt nach dem typischen Kaufmannsgruß, ist aber viel mehr: In den Bereichen Baurecht, Umweltverträglichkeit, Wasserrecht, Arbeitsschutz oder Arbeitszeitregelungsgesetz haben Auflagen und Normen unsere Arbeit in den vergangenen Jahren ganz dramatisch verkompliziert. Vieles ist eigentlich nicht mehr überschaubar.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Pierer (lacht) Eines? Wir bauen fast jährlich eine neue Betriebsstätte. Die notwendigen Gutachten, die von zuständigen Mitarbeitern in den Behörden verlangt werden, um sich bei ihren Entscheidungen aufgrund der Haftungsfrage abzusichern, haben sich zuletzt vervielfacht. Kein Wunder, dass angesichts dessen die Wirtschaftlichkeitsrechnung neuer Projekte schlechter ausfällt. Bei uns müsste eigentlich – wie in Deutschland – konjunkturell die Post abgehen, aber es herrscht Stagnation. Wir hemmen uns selbst.

In Deutschland stürzten Einzelgewerkschaften das Land durch Streiks auch immer wieder ins Chaos. Ein Unternehmerparadies sieht anders aus ...

Pierer Deutschland hat durch die Reformen von Herrn Schröder und Hartz IV stark profitiert. Dort hat man in den vergangenen Jahren Reformen konsequent genutzt und die Schrauben nicht noch weiter angezogen. Das macht derzeit einen enormen Unterschied aus. Österreich hat in allen Bereichen der Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren immer mehr Regeln und Verordnungen auf bereits bestehende Vorgaben draufgepackt. Bis 2005 hatten wir gegenüber Deutschland einen Vorteil. Jetzt, langsam aber sicher, macht sich dieser Nachteil auch in den Zahlen bemerkbar.

Sie gelten als Verfechter weitreichender Arbeitsflexibilisierungsgesetze. Bislang wurden sie nicht erhört ...

Pierer Unsere größten globalen Mitbewerber sitzen in wirtschaftlich dynamischen Regionen wie etwa Asien und Amerika. Ich habe in meinen Unternehmen gut ausgebildete, extrem leistungsbereite Mitarbeiter. Leute, die mehr arbeiten und mehr verdienen wollen. Die gesetzlichen Regelungen machen dies jedoch beinahe unmöglich. Eine Arbeitszeitflexibilisierung wäre, wenn ich das jetzt einmal überspitzt formulieren darf, eine geeignete Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung für die Industrie.

Polemisch gefragt: Monteure in Mattighofen sollen also zwölf Stunden arbeiten, weil das globale Wettbewerber auch tun …?

Pierer Für Mitarbeiter in der Produktion stellt sich diese Frage ja gar nicht. Hier reichen die bestehenden Kollektivvertragsbestimmungen aus. Aber ich brauche die Flexibilisierung bei Dienstleistern, den Ingenieuren in der Forschung, im Verkauf oder im Rennsport. Das Absurde ist ja: Die Belegschaftsvertreter und Unternehmensleiter in den Betrieben arbeiten konstruktiv zusammen. Die Lösungskompetenz zwischen Betriebsrat und Mitarbeitern ist hoch. Wenn ich mit meinen Mitarbeitern über das Thema Flexibilisierung rede, gibt es kaum zwei Meinungen. Die Erschwernisse werden in den Sozialpartnerschaftsstrukturen geschaffen. Diese Strukturen machen Österreich langsam und träge.

Stichwort Hochlohnland Österreich: Wo liegt für Sie der Preis für gute Arbeit?

Pierer Leistung muss sich lohnen, damit die Mitarbeiter davon profitieren können. Mitarbeiter, die 3.000 Euro brutto verdienen, kosten den Arbeitgeber 54.700 Euro im Jahr und am Konto des Mitarbeiters landen 27.200 Euro. Die Differenz zwischen brutto und netto ist in der letzten Dekade wirklich schmerzhaft geworden. Die sogenannte Jahrhundertsteuerreform hat daran nichts substanziell geändert.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, den KTM-Standort ins Ausland zu verlegen?

Pierer Als österreichischer Unternehmer bleibe ich meiner Heimat treu. Mehr noch: Ich habe die Husqvarna-Produktion nach Mattighofen gebracht und die holländische WP AG mit mittlerweile 700 Jobs nach Munderfing. Ich bin der festen Überzeugung, dass Leitunternehmen wie die Voest, Rosenbauer, Lenzing, Plasser oder Miba, um nur einige zu nennen, in Österreich und in österreichischer Hand bleiben sollen. Trotz aller Standortdefizite – und obwohl sich die Situation eher verschlimmert als verbessert: Ich denke nicht daran, mit meinen Unternehmen abzusiedeln.

Eines ist sicher: Das Unternehmertum ist Stefan Pierer, der 1956 als jüngstes von vier Kindern auf einem Bauernhof in Etmißl, Bezirk Bruck an der Mur geboren wurde, nicht in die Wiege gelegt. Nach dem Studium der Betriebs- und Energiewirtschaft an der Montanuni Leoben startet Pierer 1982 bei Hoval als Vertriebsassistent und avanciert bald zum Vertriebsleiter für Oberösterreich. 1987 macht er sich selbstständig. Mit der CROSS Beteiligungsgruppe spezialisiert er sich auf den Kauf, die Sanierung und die Verwertung von angeschlagenen Unternehmen. "Als kleine Heuschreck", wie er einst in einem Interview ironisch anmerkte.

1992 übernahm er die insolvente KTM – um 50 Millionen Schilling. Vielleicht seine wichtigste Entscheidung im Leben: Als Großaktionär ist er bis 2020 CEO – und Aufsichtsratsvorsitzender von Pankl und der WP AG. 2005 übernimmt Pierer Eternit (O-Ton: "mein Lieblingsunternehmen"). 2006 auch noch den niederländischen Zulieferer WP AG – und verlegt den Standort nach Österreich. 2007 überlässt er 48 Prozent der KTM AG dem indischen Auto- und Motorradkonzern Bajaj Auto. 2008 wohl die größte Prüfung im Leben Pierers: Die Krise macht eine Abschichtung einer 80-Millionen-Anleihe unmöglich. CROSS Industries steht vor dem Aus. Pierer verkauft schweren Herzens Eternit und kann die Hälfte der Summe aufbringen. Eine Haftung des Landes Oberösterreich mobilisiert den Rest der Summe bei einigen Banken. 2013 hat Pierer längst Oberwasser: Er kauft den Mitbewerber Husqvarna, schließt die Produktion in Italien und verlegt sie nach Mattighofen. 2015 geht Pierers CROSS Industries (mit einem Umsatz von über einer Milliarde Euro und einer Ertragsmarge von fast neun Prozent im Jahr 2014) im Prime-Market an die Wiener Börse.

Der KTM-Chef über...

… sein Verhältnis zu Banken "Manche Banken haben uns – als mitten in der Finanzkrise einige unserer Finanzierungsinstrumente abreiften – stark unterstützt. Andere nicht. Ich habe bei diesen Dingen ein besonders langes Gedächtnis. So etwas merkt sich ein Unternehmer bis ans Lebensende, auch wenn sich die Vorzeichen wieder umkehren. Und wir haben uns in den vergangenen vier Jahren verdoppelt."

… gesetzlichen Arbeitsschutz für über 50-Jährige "Ein Kündigungsschutz ist immer kontraproduktiv. Wenn der Gesetzgeber den Unternehmen die Flexibilität nimmt, bei einem älteren Arbeitnehmer auf schwierige Situationen zu reagieren, entscheidet sich der Arbeitgeber bei der Einstellung im Zweifel gegen ihn. Ich möchte eigentlich nicht auf die Erfahrung und Kompetenz der älteren Mitarbeiter verzichten müssen."

… die Landtagswahlen in Oberösterreich "Ich habe größte Wertschätzung für einen Landeshauptmann, der sich in der Krise für uns eingesetzt hat. Die Landesregierung hat 2008 eine Rückhaftung für KTM übernommen. Was den Aufbau der Bürokratie betrifft, so ist hier eine grüne Handschrift erkennbar. Die Grüne Partei wird oft als Regulierer und etwas leistungsfremd wahrgenommen."

… die FPÖ "Die schlechte Performance der Regierung, die verpatzte Steuerreform und die aktuelle Flüchtlingsproblematik spielen der FPÖ in die Karten."

… die sechste Urlaubswoche "Gerüchten zufolge wird gerade die Lockerung der Arbeitszeitflexibilisierung im Abtausch für eine sechste Urlaubswoche diskutiert. Diese typisch österreichische Vorgehensweise trägt leider nicht zur Stärkung des Industriestandortes bei und bringt auch den ArbeitnehmerInnen nicht mehr netto in die Tasche."